Endspurt

10.8.2017 - Erlangen (89198 km)

Der Wind bläst kräftig aus Südwesten. Obwohl die Fähre von der Nordspitze Dänemarks nach Schweden erst gegen 15 Uhr in Göteborg angelegt hat, schaffe ich bis zum Abend noch rund 100 Kilometer in Richtung Nordost, Richtung Eskilstuna. Am nächsten Tag geht es genauso flott weiter. Ohne mich zu mühen, spule ich 200 Kilometer ab. Die letzten 100 Kilometer mache ich mit dem Rückenwind am folgenden Vormittag und erreiche mit Eskilstuna die neunte Partnerstadt auf meiner Reise.

Endspurt-Stimmung. Seit Wochen radle ich fast täglich. Irgendwann habe ich - unbewusst - in den Forrest Gump-Modus umgeschaltet. Sightseeing gibt es schon lange nicht mehr. Es fehlt mir auch nicht. Ich sitze den ganzen Tag im Sattel und schaue in den Panoramafernseher vor mir, genieße die abwechslungsreichen, üppigen europäischen Landschaften. Wie gut wir es auf unserem Kontinent haben! Gelegentlich kommt mir die endlos eintönige Wüste im Sudan wieder in den Sinn.

Das Rathaus von Eskilstuna

Mehrtägige Aufenthalte hatte ich nur noch bei meiner Schwester in Müllheim und bei meinem Bruder in Frankfurt, wo ich viel Organisatorisches erledigt habe, unter anderem die Koordinierung der letzten Partnerstadtbesuche. In Frankfurt musste ich mich außerdem auf die Suche nach einem passenden neuen Tretlager machen; das alte hatte seit Kapstadt 26.000 km auf dem Buckel und nun so viel Lagerspiel, dass es die letzten 4000 Kilometer nicht mehr schaffen würde.

In Eskilstuna herrscht Urlaubsstimmung, sowohl in der Stadt als auch im Rathaus. Kaum jemand da. Doch der Zweite Bürgermeister, Lars-Olof Lundkvist, spendiert mir gern etwas von seiner privaten Zeit für einen gemeinsamen Rundgang durch das Stadtzentrum. Den Grußbrief aus Erlangen wird er demnächst an die Bürgermeisterin weiterreichen.

Lars-Olof Lundkvist zeigt verschmitzt auf eine Schaltanlage im Keller des Rathauses - sie ist von Siemens.

Forrest Gump lässt dann den Umweg über das nahe Stockholm aus. Weil er gesättigt ist. Und weil außerdem die schwedischen Städte sehr teuer sind. Sein Weg führt direkt zurück nach Dänemark und weiter Richtung Deutschland.

Der Weg durch Westeuropa. Als ich im Mai über die österreichisch-deutsche Grenze kam, war Erlangen 250 Kilometer nah. Aber es lagen noch 8.000 Kilometer vor mir.

 "Sie sind aber spät dran", sagt die Dame am Kassenhäuschen im Hafen von Gedser. Es regnet schon den ganzen Tag lang in Strömen. Ich bin gefahren und gefahren, pausenlos, und habe spontan beschlossen, doch noch heute nach Rostock überzusetzen. "Ich bin nicht spät dran, sondern einen Tag zu früh", antworte ich. "Wann fährt denn ein Schiff?"

"Jetzt!" Über Funk informiert sie die Crew, dass noch jemand kommt. "Fahren Sie ausnahmsweise unten rein. Da, wo die Lastwagen sind."

"Vielen Dank!"

Ein Mann in nasser Öljacke weist mir im Bauch des Schiffes einen Platz zu, an dem ich das Fahrrad festbinden kann. Direkt hinter mir wird die Laderampe hochgezogen.

Fabian in Rostock mit seinem "Diamant"-Fahrrad. Die Marke hat aus DDR-Zeiten überlebt.

Zum Glück hat das Ampelmännchen aus dem Osten ebenfalls überlebt. Das Männchen mit der Seele. Und es hat sich sogar vermehrt. Man sieht es inzwischen z.B. auch in Kassel und in Darmstadt.

 

 

 

 

 

 

Der strömende Regen setzt sich in Rostock fort. Wie gut, dass ich bei Fabian Unterkunft finde. Schon in Oldenburg und Hamburg war ich zu Gast bei Unbekannten, die mich per eMail eingeladen hatten. Auch den guten Fabian lerne ich erst am Abend der Ankunft kennen.

Zwei Tage später noch eine ganz besondere Adresse: Anja in Edemissen bei Braunschweig. Sie war meine Jugendfreundin in den sieben Jahren, die unsere Familie in Groß Ilsede gelebt hat. 1972 zogen wir um nach Hildesheim. Nach 45 Jahren sehe ich Anja nun zum ersten Mal wieder.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anja und Peter (mit Anjas Mutter) vor ca. 50 Jahren ...

 

... Anja und Peter heute (mit Anjas Partner Carsten)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dann ein bisschen Zickzack durch Mitteldeutschland, zu den Firmen Patria und Rohloff. Der Fahrradhersteller in Leopoldshöhe macht bald Betriebsurlaub, also führt der Weg zuerst dorthin. Da Rohloff erst eine Woche später den Betrieb nach dem Urlaub wiederaufnimmt, lege ich einige Tage Pause bei Reiseradlerin Tine in Göttingen ein, bevor ich zu den Heiligen Hallen des Getriebeherstellers in Kassel fahre.

Besuch beim Fahrradhersteller Patria. Rechts Waldemar Schitz, kaufmännischer Leiter der Firma.

Ein letztes Erlanger Grußschreiben schlummert noch in meinen Packtaschen, adressiert an Albrecht Schröter, den Oberbürgermeister unserer Partnerstadt Jena. Er war diesem Brief vor zweieinhalb Jahren schon einmal ganz nahe - als wir uns nämlich im März 2015 in Mittelamerika kennenlernten. Erlangen und Jena waren mit einer gemeinsamen Delegation bei ihren Partnerstädten in Nicaragua zu Besuch (-> "Zehn Gramm"). Den Brief hat Herr Schröter damals natürlich noch nicht bekommen.

Während wir nun im Rathaus von Jena zusammensitzen, erlaubt er sich den Scherz, beim Absender des Grußschreibens, dem Erlanger Ex-OB Siegfried Balleis anzurufen und sich zu beschweren: "Du solltest mal Dein Postunternehmen wechseln! Ich habe gerade einen Brief von Dir bekommen, und der war mehr als vier Jahre unterwegs." Stille am anderen Ende der Leitung. Bis plötzlich lautes Lachen ertönt.

Per Videokonferenz zeigt Jenas OB Albrecht Schröter dem Erlanger Ex-OB Siegfried Balleis den Brief, den der vor viereinhalb Jahren auf die Reise geschickt hat. - Foto: Kristian Philler

Für den letzten Abend meiner Reise hat sich Jörg angemeldet, wir treffen uns auf dem Campingplatz in Lichtenfels. Derselbe Jörg, der damals auch schon beim Start zu Tour de Friends dabei war und bis nach Russland mitgeradelt ist. Am nächsten Morgen trifft am Bahnhof auch Martin ein.

Eine gute Stunde vor Erlangen kommen uns weitere Freunde entgegen, mein "Siemens-Ziehvater" Hans, seine Frau Roswitha und ihr Enkel Johannes. Dann auch noch meine Freunde Heiko und Markus. Als Gruppe radeln wir in unserer Heimatstadt ein. Natürlich mit etwas Zeitreserve, um - wie verabredet - rechtzeitig um 16 Uhr vor dem Rathaus zu sein.

Vor dem Bahnhof bummeln wir die letzten Minuten ab. Bei der Gelegenheit schaue ich auf meinen GPS-Track vom 28. März 2013. Wie bin ich am Tag des Aufbruchs zum Rathaus gefahren? Über die Nürnberger Straße? Dann müssten wir uns jetzt weiter westlich halten. Denn dort, wo ich nach 360 Längengraden um den Globus zum ersten Mal meine Route kreuze, ist die Weltumradlung beendet. Beendet sein soll sie aber nicht in der Nürnberger Straße, sondern genau vor dem Rathaus. Ein kurzer Check - und ... ja: Ich kam damals durch einen kleinen Seitenweg von Osten, wir können durch die Nürnberger Straße fahren.

Foto: Tilman Schwob

Die letzten hundert Meter dieser langen Reise. Rhythmisches Klatschen schallt vom Rathausplatz herüber. Freunde und Bekannte erwarten uns dort, Arbeitskollegen und einige Menschen, die ich nicht kenne. Bürgermeisterin Susanne Lender-Cassens fällt mir um den Hals, dann hält sie eine kurze Begrüßungsrede. Ex-OB Siegfried Balleis ist auch da, der Absender der Grußschreiben, die nun in der Welt ausgeteilt sind. Es ist ein herzlicher Empfang, es wird viel gelacht. Im ersten Stock des Rathauses setzt sich die Feier mit einem Sektempfang fort.

Foto: Markus Friedrich

Wo geht man eigentlich hin, am Abend, wenn man nach 52 Monaten wiederkommt? Bis ich in meine alte Wohnung in Erlangen zurückkehren kann, nimmt mich die treue Familie Gackstatter in Neunkirchen auf. Wie 2004, als ich von der ersten Weltumradlung zurückkam. Anfang Oktober ziehe ich dann wieder in der Moltkestraße ein.

Wie gut ich es habe! Alles fügt sich - wie meistens auch schon während der Reise. Einige Leser dieser Berichte haben mir geschrieben, ich hätte unterwegs doch wohl sehr viel Glück gehabt. Aber wie kam es zu diesem Glück? Auch durch die jahrzehntelange Erfahrung, durch gründliche Planung und insbesondere durch das langsame Tempo. Fast immer hatte ich genügend Zeit, mich auf die jeweiligen Umstände einzustellen.

So ist es auch jetzt: Ich war gern unterwegs, aber nun komme ich auch gern wieder an. Es war so schön, die ganze Welt noch einmal vom Fahrradsattel aus erleben zu dürfen. Und jetzt freue ich mich, wieder bei der Familie und bei den Freunden zu sein.

 

Fotos: Tilman Schwob

Steffi stellt mir ihre Tochter Marie vor. Sie war vor viereinhalb Jahren noch gar nicht auf der Welt.

 
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