Mitgefangen

(Indien / Myanmar)

18.3.2014 - Chiang Mai / Thailand (21312 km)

Moreh - ein kleines Städtchen ganz weit im Osten Indiens, noch jenseits von Bangladesch - ist ein Grenzort ohne echten Grenzverkehr. Indische Staatsangehörige dürfen für einen Tag nach Myanmar hinübergehen und müssen spätestens am Abend wieder nach Indien zurückkehren. Ausländern ist der Übertritt grundsätzlich verwehrt: Moreh ist ein "nicht-internationaler" Grenzübergang.

Die Nord- und Ostgrenzen Indiens. Im Norden liegt Tibet - individuelle Einreise nicht möglich. Im Osten blockiert Myanmar den Weg nach Südostasien. Die einzige Chance: per Gruppenreise die Grenze bei Moreh überqueren.

Myanmar öffnet sich zwar seit dem letzten Jahr auch für die Einreise überland, bisher aber nur an den Ostgrenzen zu Thailand und zu China. Aus westlicher Richtung muss man weiterhin einfliegen. Überland geht nur mit einem teuren Trick, und der heißt "Gruppenreise". Für eine offizielle Gruppe öffnen Indien und Myanmar auch die Schlagbäume bei Moreh.

Vor zehn Jahren war es mir nach monatelangen Diskussionen gelungen, die Erlaubnis für die Myanmardurchquerung mit dem Fahrrad von China nach Indien zu bekommen. Auch damals war "Gruppenreise" das Schlüsselwort. Wobei die Gruppe nicht gerade groß war. Ein Name nur stand auf der Liste, es war meiner ("Die Reisegruppe" auf www.lemlem.de).

Tin Maung Shwe, ein Reiseveranstalter in Yangon, hatte Ende 2003 alle Register gezogen und mir für einen Freundschaftspreis von 20 US$ pro Tag die Durchreise ermöglicht - inklusive unzähliger Permits und der unausweichlichen Eskorte, die aus vier Begleitern bestand. In einem von Tigern bevölkerten Wald kamen außerdem zwei bewaffnete Begleiter hinzu, im überfallgefährdeten Grenzgebiet zu Indien fünf Soldaten. Mit neun Mann Begleitung radelte ich damals von Osten her auf die Grenze bei Moreh zu ("Die Grenze" auf www.lemlem.de).

Der Kontakt zu Tin Maung Shwe ist leider abgebrochen. Andere Veranstalter würden heute etwa den zehnfachen Preis für eine Einzeldurchquerung fordern. Die einzige bezahlbare Lösung ist das Aufspringen auf einen der seltenen Auto-Konvois. Heike und Julian, die ich schon in Kirgistan kennengelernt hatte, haben angeboten, mich in ihrem alten Benz-Bus mitzunehmen.

Moreh

In den letzten Tagen bin ich den nahenden Konvoifahrzeugen vorausgefahren. Sollte es irgendwelche Probleme geben, können Heike und Julian mich schon vor der Grenze aufladen. Ich darf diese Gelegenheit auf keinen Fall verpassen, es gibt keinen weiteren Konvoi in absehbarer Zeit.

Mit meinem Sicherheitsabstand komme ich einen Tag vor den anderen in Moreh an. Am nächsten Morgen erzählen die Leute auf der Straße, dass die Grenze derzeit komplett geschlossen ist. Zwei Inder seien auf der anderen Seite verschwunden. Man vermutet mafiose Konflikte. Die Bevölkerung von Moreh hat mit einem "Streik" reagiert. Diese sogenannten Streiks sind im Nordosten Indiens ein verbreiteter Versuch, auf Missstände aufmerksam zu machen. Studenten veranstalten Sitzstreiks, Lastwagenfahrer blockieren mit ihren LKW die Straße. Fraglich allerdings, ob es irgendjemanden in Myanmar berührt, dass heute die winzigen Läden in Moreh nach außen hin so tun, als ob sie geschlossen wären.

Am Morgen darauf fahren Heike und Julian und die anderen Fahrzeuge des Konvois in Moreh ein. Und die Grenze scheint wieder offen zu sein. Der indische Guide, der die Fahrzeuge bis hierher begleitet hat, ist bereits auf der anderen Seite, um eine Bestätigung zu holen, dass Myanmar uns auch wirklich einreisen lässt. Ohne diese Bestätigung wollen die Inder nicht ihren Ausreisestempel in unsere Pässe drücken.

 

 

 

 

 

 

 

 

Heike und Julian fahren in Moreh ein

Die Formalitäten ziehen sich über den ganzen Tag hin. Gegen 17 Uhr können wir endlich über die Friendship Bridge, eine klappernde alte Eisenbrücke, nach Myanmar ausreisen. Auf der anderen Seite erwartet uns mit Jörn Schlag der deutsche Part der vierköpfigen Reiseleitung. In dem riesigen Wohnlastwagen einer französischen Familie kommen hier auch noch zwei weitere Radler an, ein junges Pärchen aus Polen. Sie waren mit Flugtickets in der Tasche auf dem Weg nach Imphal, um von dort aus Indien auszufliegen, als sie vor drei Tagen zufällig von dem Konvoi erfuhren und sich kurzfristig anschlossen.

Sie versuchen gerade, über die schwächelnde Internetverbindung via Moreh den Flug zu stornieren, als ein Myanmar-Beamter mit zwei Pässen aus dem Büro herauskommt: "Die beiden Polen bitte!" Es gibt Diskussionen, weil sie nicht auf der Liste der Reisegruppe stehen. Die wurde vor etwa vier Wochen geschlossen und dann bei den Behörden eingereicht. Jörn versucht, mit den Beamten der Immigration zu verhandeln, aber sie drehen den Spieß einfach um: Sie unterstellen ihm und seinen Kollegen aus Myanmar, dass sie Menschen hätten ins Land schmuggeln wollen. Es gibt keine Gnade, die beiden Radler werden zurückgeschickt nach Indien. Das ist äußerst bitter, mit dem indischen Ausreisestempel im Pass hatten sie es ja eigentlich schon geschafft.

 

 

Die Nacht verbringt unsere Gruppe auf einem Fußballplatz im nahen Tamu. Die erste Etappe nach Kalay ist mit 130 Kilometern kurz genug, dass ich radeln kann. Mit dem Sonnenaufgang baue ich das Zelt ab und tausche dann auf dem Markt bei einem Lebensmittelstand die letzten indischen Rupien. Wie gestern Abend schon begegnen mir die Menschen sehr freundlich und mit blendendem, ehrlichen Lächeln.

Ich verlasse die Stadt in Richtung Süden auf gut asphaltierter Straße, auf der India Myanmar Friendship Road. Sie ist wenig befahren und führt durch kleine, paradiesisch ruhige Dörfer mit Holzhäusern, die auf Stelzen stehen. Das Holz ist stark und edel, nicht selten Teakholz. Die Orte erscheinen mir sehr sauber. Das mag daran liegen, dass ich vier Monate in Indien verbracht habe, wo der Müll allgegenwärtig war. Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man auch in Myanmar Mülldepots, hauptsächlich Kunststoffverpackungen. Eines Tages wird die Welt in diesem Kunststoff ersticken. In Myanmar gibt es wenigsten den Versuch, den Abfall zu verbergen, und vor allem haben die Müllhaufen viel kleinere Dimensionen als die in Indien.

(Liebes Indien! Bitte entschuldige, dass ich jetzt schon monatelang auf Dir rumhacke und so viel Negatives erzähle. Ich sehe mich jedoch verpflichtet, niemanden in die Irre zu führen, der Dich vielleicht auch einmal erfahren möchte. Der nicht einfach nur in Goa abhängen will oder in teuren Hotels, sondern die indische Wirklichkeit erleben möchte. Er muss einfach vorbereitet sein auf den Lärm, den Dreck, die strengen Gerüche, die Enge auf den Straßen, den Bevölkerungsdruck, das Fehlen der Privatsphäre. Aber ich werde eines Tages noch gern an Dich zurückdenken - wenn ich in unsicheren Ländern unterwegs bin, wenn das Essen eintönig wird, wenn mir die Farben fehlen, die Musik, die Kultur und noch viel mehr des Positiven, das tief und manchmal ein wenig verborgen in Dir steckt!)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es ist ein seltsames Gefühl, so frei und unbewacht auf der Friendship Road zu radeln. Dies ist der Abschnitt, auf dem ich im November 2003, in umgekehrter Richtung fahrend, neun Mann Begleitung hatte. Nun darf ich mich hier frei bewegen, kann stehenbleiben, wo ich will. Kann mich mit den Menschen unterhalten, soweit die Sprachbarriere es zulässt - einige von ihnen sprechen immerhin ein wenig Englisch. Und gleich den ersten Imbiss an diesem Tag, eine reichhaltige Nudelsuppe zusammen mit dem üblichen all-you-can-drink-Tee aus der Thermoskanne, will mir die herzliche Dame nicht berechnen. Ich mag das nicht annehmen und brauche mehrere Versuche, bis sie die 500 Kyat ("Tschat" gesprochen, 500 Kyat sind knapp 40 Cent) schließlich doch annimmt.

50 Kilometer südlich von Tamu hat in Khampat das Gefühl von Freiheit ein plötzliches Ende. Ein zivil gekleideter Mann springt vor mein Fahrrad, nur an dem Funkgerät in seiner Hand erkenne ich, dass er kein normaler Zivilist ist und wahrscheinlich Weisungsbefugnis hat. Nachdem er in das Gerät hineingesprochen hat, lässt er mich weiterfahren. Doch nach nur 300 Metern werde ich wieder gestoppt. Eine Gruppe von Uniformierten will meinen Pass sehen.

"Wo ist die andere?" fragt der Chef. "Es sind doch zwei Radler!"

Zwei Radler?

Ach so, das ist gar keine Routinekontrolle! Die sind informiert! Man hat ihnen mitgeteilt, dass sich das radelnde polnische Pärchen möglicherweise über die Grenze schleichen wird.

Meine Passdaten reichen ihnen nicht aus. Sie rufen bei der Immigration in Tamu an und geben die Informationen durch. Lange fünfzehn Minuten sitze ich angespannt da und warte. Dann endlich kommt der Rückruf: Lasst ihn weiterfahren.

 

 

 

 

 

 

 

 

Auch auf der weiteren Route sind immer wieder Männer mit Funkgeräten am Wegrand postiert. Unser Konvoi steht unter Beobachtung. Und die Reiseleitung steht unter Druck. Gestern wollte sie - den Vorwürfen zufolge - zwei Menschen einschmuggeln, heute lässt sie einen Radler frei laufen. 19 motorisierte Fahrzeuge sind gemeldet, nicht 19 plus ein Fahrrad! Das geht so nicht! Am Abend erteilt man mir Radelverbot.

Es ergibt sich eine lange Diskussion. Jörn hätte kein Problem, wenn ich allein weiterführe, aber die einheimischen Reiseführer trauen sich nicht, über ihren Schatten zu springen. Sie sind in einem Überwachungsstaat mit Spitzeln und Denunzianten aufgewachsen. Myanmar verändert sich zwar in Richtung Demokratie und Freiheit, doch das funktioniert nirgendwo auf der Welt von heute auf morgen.

Was soll ich tun? Ich könnte versuchen zu "fliehen". Das würde aber nicht nur die Guides in Schwierigkeiten bringen, sondern könnte auch für die Gruppe Konsequenzen haben. Derzeit darf jede Fahrzeugbesatzung sich den Tag einteilen, wie sie will. Bedingung ist nur, dass am Abend alle am vorgegebenen Zielort sind. Wenn ich mich absetze und damit noch einmal für Unruhe sorge, könnte die Gruppe zu einer echten Konvoifahrt gezwungen werden - und das möchte hier niemand.

Ab diesem Tag fahre ich als Dauergast bei Heike und Julian mit. Ich kann mich damit abfinden, habe zwar weniger bekommen als erhofft, habe aber immerhin einen Flug vermeiden können. Und das war mir das Wichtigste.

Abends am Lagerfeuer: Heike und Julian

Warum? Weil das Fliegen so beliebig ist. Über Myanmar kann man in einer guten Stunde hinüberhüpfen. In ca. acht Stunden könnte ich dorthin zurückfliegen, wo ich vor einem Jahr mit dem Fahrrad aufgebrochen bin. Genauso schnell aber stattdessen auch nach Australien. Oder nach Mozambique. Mir gefällt das langsame Reisen besser. Da weiß man wenigstens, wo man gerade ist. Wie lange ich Flüge noch vermeiden kann, ist eine andere Frage. Der nächste droht bereits auf dem Weg nach Nordamerika.

Wir haben eine gute Zeit in der Gruppe. Sie besteht aus rund 40 Reisenden mit 19 Fahrzeugen: drei Motorräder, mehrere bewohnbare Geländewagen, zwei klassische Wohnmobile, drei ältere Mercedes-Busse und einige geländegängige Wohnlastwagen. Riesig der MAN-Laster der französischen Familie, mit denen die polnischen Radler über die Grenze kamen. Das Führerhaus ist so breit, dass vier erwachsene Menschen nebeneinandersitzen können. Der Aufbau hinten sieht aus wie ein überdimensionaler Schuhkarton. Türen und Fenster kommen erst zum Vorschein, wenn der Deckel hydraulisch angehoben wird und das Fahrzeug auf die eineinhalbfache Höhe wächst. Wir nennen sie die "Hochhaus-Franzosen". Es mag protzig aussehen, aber die Familie tritt überhaupt nicht angeberisch auf. Ganz im Gegenteil, sie ist sehr natürlich und nebenbei auch noch ausgesprochen hilfsbereit. Die vier genießen mit dem Geld, das sie zu Hause verdient haben, nun einfach ein bequemes Leben auf ihrer mehrjährigen Reise.

 

 

 

 

 

 

 

Die Wagenburg auf einem Sportplatz am Inle Lake. Links die "Hochhaus-Franzosen"

Auch die meisten anderen Teilnehmer der Myanmardurchquerung werden mehr als ein Jahr unterwegs sein. Auf den Übernachtungsplätzen bilden sich im Laufe der Tage drei Gruppen heraus: Die Motorradfahrer sind meist unter sich, dann gibt es die etwas gesetzteren Paare, die eher die Ruhe suchen und möglichst etwas Abstand zu denen halten, die bis in die Nacht hinein Party machen, manchmal mit Lagerfeuer, immer mit Musik und genügend kaltem Bier.

Das Reisen in Myanmar ist in den letzten Jahren einfacher geworden. Nicht nur, weil nach und nach immer mehr Sperrgebiete geöffnet werden. Inzwischen ist es auch möglich, Geld über Reiseschecks zu beziehen, in den größeren Städten gibt es sogar Geldautomaten. Bis vor ein paar Jahren musste man wegen des internationalen Embargos all sein Geld bar mitbringen.

In der Pagode der 500.000 Buddhas bei Monywa

Zwei kürzere Tagesetappen kann ich auf dem Weg durch das Land doch noch radeln. Unsere Route führt über Mandalay nach Bagan, das Zentrum eines alten Königreiches. Im Laufe der Jahrhunderte wurden hier mehrere Tausend kleine und große Pagoden gebaut; auf rund 40 Quadratkilometern wachsen sie wie Termitenhaufen aus dem Boden.

Es geht weiter zum Inle-See mit seinen berühmten Beinruderern und dann in die neue Hauptstadt Naypyidaw. Die Regierung hat ihren Sitz Ende 2005 von Yangon 350 Kilometer nach Norden verlegt, mit der Begründung, dass der Ort eine zentralere Lage hat. Offiziell hat die neue Hauptstadt bereits eine Million Einwohner. Aber das kann nur eine grobe Täuschung der Staatsführung sein. Auf einer leeren Autobahn fahren wir vorbei an leeren Gebäuden in eine leere Stadt ein. Alles wirkt wie eine Kulisse. "Wie wenn du über einen Festplatz gehst, bevor das Fest begonnen hat." meint Julian.

Bagan

An unserem letzten gemeinsamen Tag fahren wir durch die Berge der thailändischen Grenze entgegen. Der Asian Highway 1 ist hier so schmal, dass eine Einbahnregelung notwendig ist: Heute rollt der Verkehr von West nach Ost, morgen dürfen die Autos in der entgegengesetzten Richtung fahren.

Bei Myawaddy reisen wir aus. Ich sitze wieder auf dem Fahrrad. Die Durchquerung Myanmars war wie ein Film im Zeitraffer, der nur ab und zu im Normaltempo lief. In ein paar Jahren komme ich wieder. Bis dahin werden auch die Westgrenzen offen sein.

 
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Maks

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