Wüste ohne Himmel

Auf der Panamericana durch den Süden Perus

12.9.2015 - Copacabana (49737 km)

Jelena hat sich gemeldet. Habe lange nichts mehr von ihr gehört. Wir hatten uns vor vielen Jahren aus den Augen verloren, nachdem ihr beruflicher Weg sie von Nürnberg über Dubai nach Berlin führte. Sie wusste auch nicht, dass ich wieder für einige Jahre auf der Straße bin. Nun hat sie gegoogelt und mich gefunden (und mit einer großzügigen Spende an "Ärzte ohne Grenzen" die Patenschaft für 500 Tour-de-Friends-Kilometer übernommen - vielen Dank!).

Sie findet es gut, schreibt sie, dass ich einfach so mein Alter wegradele, während andere daheim ihre Wehwehchen züchten. Nun ja, das hört sich gut an, aber ganz so heil sieht die Welt ja dann doch nicht aus. Würden all die Zipperlein, die mich plagen, sich organisieren und gleichzeitig auftreten, wäre meine Reise schon längst zu Ende.

Es ging gleich nach dem Start in Erlangen mit einer heftigen Entzündung der Achillessehne los. Der Bereich um die Sehne war geschwollen und blau von einem Bluterguss, die Sehne schmerzte unter Belastung stark. Fast hätte ich die Freunde, die mich damals begleiteten, vorausfahren lassen müssen. Zähnezusammenbeißen und die Zeit lösten das Problem schließlich. Aber auch jetzt noch meldet sich die Sehne nach jeder Radelpause von mehr als einer Woche zurück.

Gut und gesund: Ceviche - roher Fisch, an der peruanischen Küste häufig zu finden. Gesund natürlich nur, wenn der Fisch frisch ist. Man braucht also ein wenig Vertrauen in die Küche.

 

In Russland war dann mein Ischias so stark gereizt, dass ich kaum mehr im Sattel sitzen und treten konnte. Was tun, wenn in der Weite Russlands ein Hexenschuss daraus wird? Ich hätte ein Auto stoppen müssen und dem Fahrer beim Verladen von Fahrrad und Gepäck nicht einmal helfen können. In China blockierte urplötzlich der rechte Meniskus. Ich stieg ab und schob das Fahrrad eine Weile mit steifem Bein, bis sich die Blockade glücklicherweise wieder löste. Derzeit ist das rechte Knie hingegen instabil, was auch lästig ist. Nach längerem Sitzen oder beim Absteigen vom Fahrrad muss ich das rechte Bein sehr vorsichtig aufsetzen, um zunächst zu prüfen, ob sich im Knie alles richtig arrangiert hat. - Die Liste meiner Zipperlein ist damit längst nicht vollständig.

Will sagen: So ganz einfach lässt sich das Alter leider doch nicht wegradeln. Aber immerhin - zum Arzt musste ich auf dieser langen Reise bisher noch nicht (außer einmal zum Zahnarzt, nachdem mir ein Stein im indischen Reis einen halben Zahn weggerissen hatte).

Ein Restaurant in der grauen Küstenwüste. Üblicherweise nimmt man das "Menü des Tages": Das ist eine Suppe und ein Hauptgang (meistens Reis, Kartoffeln und ein bisschen Hünchenfleisch) mit einem einfachen Getränk. Danach ist man um 5 bis 8 Soles ärmer (1,40 bis 2,20 Euro).

Jelena schrieb auch, dass ihre Tochter Julia seit einiger Zeit in Lima wohnt. Da könne ich sicher für ein paar Tage Unterkunft bekommen. Was für eine Überraschung! Aber - so scharf auf den dunstverhangenen Moloch Lima war ich eigentlich gar nicht. Ein Drittel der peruanischen Bevölkerung drängelt sich dort, über acht Millionen Menschen. Und die Stadt ist berüchtigt für ihre ausufernde Kriminalität.

Doch es ergibt sich günstig, dass Julia vor kurzem umgezogen ist. Nach Chaclacayo, 30 Kilometer vom Zentrum Limas entfernt, landeinwärts Richtung Anden, 600 Meter hoch gelegen und damit auch außerhalb der Reichweite des grimmigen Küstennebels, der die Küstenwüste noch trister macht, als Wüste ohnehin schon ist. Julia versprach mir Sonne, und sie hat nicht zu viel versprochen. Wenn während der Zeit meines Besuchs bei ihr ein Tag überhaupt mit Nebel beginnt, so löst sich der üblicherweise im Laufe des Vormittags auf.

Die Reifenwerkstatt "Schumacher" in der Nähe von Lima

Julia habe ich vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Inzwischen ist sie 27 Jahre alt. Nach Lima kam sie vor zwei Jahren, Mitte 2013, um Spanisch zu lernen und auch ihre Masterarbeit zum Studium "Umweltwissenschaften und Nachhaltige Landwirtschaft" zu schreiben. In dieser Zeit wohnte sie in kleinen Zimmern bei verschiedenen peruanischen Familien zur Untermiete, am Anfang zwei Monate in dem ärmlichen Stadtteil Breña. "Das war eine sehr krasse und erfahrungsreiche 'peruanische' Zeit", sagt Julia.

Nach vier Monaten kehrte sie nach Deutschland zurück, wo sie das Studium abschloss. Schon im April 2014 reiste sie wieder nach Lima, denn dort wartete jemand auf sie.

Zusammen mit ihrem peruanischen Freund Alex machen wir am Tag nach meiner Ankunft eine Wanderung in den Bergen östlich von Chaclacayo. Das Tal des Rio Rimac zieht sich recht sanft in Richtung Anden empor, so seicht, dass hier eine Bahnlinie gebaut werden konnte. Sie beginnt auf Meeresniveau in Lima und überquert auf dem Weg nach Huancayo einen Pass in 4800 Metern Höhe!

Julia und Alex

Ziel unserer Sonntagswanderung ist ein Wasserfall, den wir allerdings nicht erreichen. An der Stelle, an der wir eine Abkürzung wählen, laufen wir an der entscheidenden Abzweigung vorbei. Unser Weg endet nach etlichen Kilometern an einem weitläufig umzäunten Gelände am Berghang. Sieht aus wie eine kleine, unvollendete Wasserkraftanlage. Letztlich ist es egal, dass wir unser eigentliches Ziel verfehlt haben. Die Aussicht in das Tal ist atemberaubend, und wir haben uns viel zu erzählen.

Alex klärt uns über die politischen Wirren Perus Ende des letzten Jahrhunderts auf. Besonders interessant dabei ist die Geschichte des Ex-Präsidenten Alberto Fujimori: Er wurde nach seiner leichtsinnigen Rückkehr aus dem japanischen Exil zunächst für sechs Jahre ins Gefängnis geschickt, später für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu weiteren 25 Jahren verurteilt. Erst 2034 würde er freikommen. Er kann jetzt nur darauf hoffen, dass im kommenden Jahr seine Tochter Keiko die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Dann wird es sich bestimmt irgendwie fügen, dass er das Gefängnis vorzeitig verlassen kann.

Wahlkampfplakate gibt es in Peru nicht. Dafür wird aber jede freie Mauer für Wahlwerbung genutzt. Keiko, die Tochter des inhaftierten Ex-Präsidenten Fujimori, ist bei den Wahlen 2011 nur knapp gescheitert. 2016 versucht sie es noch einmal.

Alan Garcia Perez war bereits zweimal Perus Präsident (1985-90 und 2006-11). Er wirbt jetzt mit seiner Erfahrung. Zu seinen Erfahrungen zählt der dramatische Währungsverfall in seiner ersten Amtszeit. Er gipfelte in einer Inflation von fast 8000%. Als Nachfolgewährung zum Sol wurde der Neue Sol eingeführt. Für eine Milliarde der alten gab es einen neuen.

Der 38jährige Alex ist Musiker und Künstler, gelegentlich arbeitet er als Grafik-Designer. Fast zehn Jahre lang tingelte er als Straßenmusiker durch ganz Südamerika. Derzeit ist seine Hauptaufgabe die Pflege der Mutter und der Tante. Beide sind über 80 Jahre alt. Sein Vater, ein Polizist, ist vor einigen Jahren gestorben - von der Witwenrente leben sie nun zu dritt in einer Wohnung in Lima. Auch Julia hat nach ihrer Rückkehr nach Peru eine Zeitlang dort gewohnt, bis sie nach Chaclacayo zog, um ihrer neuen Arbeitsstelle näher zu sein. Anfangs hat sie sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen: in einem deutschen Café im schicken Stadtteil Miraflores, dann in einem technischen Übersetzungsbüro, danach in einer Reiseagentur für deutschsprachige Touristen in Peru. Nebenbei verdiente sie sich Geld als private Englisch- und Deutschlehrerin. Seit dem Frühjahr hat sie eine feste Anstellung an einer deutschen Schule, an der sie Deutsch und Biologie unterrichtet.

Julia lebt gern in Peru. Wie lange sie hier bleibt, ist vollkommen offen. Aber spätestens wenn Kinder da sind und die ins schulpflichtige Alter kommen, möchte sie das Land verlassen. "Das Bildungssystem", sagt sie, "hat hier ein ganz, ganz schlechtes Niveau."

Schnee fällt an der peruanischen Küste nie. Aber ab und zu ist Sandschieben angesagt.

Mit der Ankunft in Lima bin ich wieder auf die Route meiner ersten Weltumradlung gestoßen. Damals kam ich entlang der Küste von Süden, besuchte Freunde in der Hauptstadt, außerdem ein Projekt von "Ärzte ohne Grenzen", und fuhr dann durch die Berge zurück Richtung Bolivien. Ich kenne also beide Wege. Trotz des grauen Hochnebels wähle ich jetzt für die Weiterfahrt nach Bolivien wieder die Route entlang der Küste. Vor mir liegt noch genug Kletterei durch die Anden weiter im Süden.

Es ist wirklich bedrückend, wohnen möchte ich in der Eintönigkeit der peruanischen Pazifikküste nie und nimmer. Als ob das Auge nicht durch erheiternde Farben gestresst werden dürfte, als müssten sich die Häuser in der tristen Umgebung tarnen, vermeiden die meisten Bewohner erfrischende Farbe an ihren Häusern. Betongrau und, bei Ziegelbauten, rotbraun sind die bevorzugten Töne. Und dann ist auch noch alles vermüllt mit Plastikabfall - die Fahrt entlang der Küste ist zeitweise wirklich deprimierend.

Hinter Pisco schwenkt die Straße etwas ins Landesinnere, und somit ist der blaue Himmel wieder da. Hier wächst - im Sand - der berühmte peruanische Wein; Flüsse aus den Anden sorgen für die Bewässerung der Felder.

Huacachina

 

Und dann bin ich zurück in Huacachina, einer kleinen Oase, in deren Dünen man Sahara-Filme drehen könnte. Vor 13 Jahren gab es in dieser winzigen Siedlung zwei einfache Hostales, ich sah damals einen einzigen Ausländer. Heute ist Huacachina ein riesiger Spielplatz für die Gringos. Jede dritte Tür führt in eine Unterkunft, laute neunsitzige Sand Buggys knattern mit den Touristen durch die Dünen, Snow Bords werden vermietet (weil sie auch auf Sand gut rutschen). Einen sehe ich, der offenbar seine eigenen Skier mitgebracht hat.

Huacachina ist ein perverser Ort, wie etwa auch Goa mit seinen Stränden, die nur offiziell indisch sind. Und trotzdem suche ich solche Ausländerghettos ab und zu gern auf, weil durch die touristische Infrastruktur das Leben mit einem Mal wieder so bequem ist.

 

 

 

Von Huacachina geht es weiter nach Nasca, bekannt vor allem für die "Nazca Lines", die rätselhaften Geoglyphen im Wüstensand. Vor Jahrhunderten, wahrscheinlich sogar vor mehr als 1000 Jahren, haben die Wüstenbewohner in der Nasca-Ebene kilometerlange gerade Linien in die Wüstenoberfläche gekratzt. Die eigentliche Attraktion aber sind Figuren, zum Teil mehr als hundert Meter lang, wie etwa der Affe, der Kolibri, die Eidechse, der Hund. Sie sind so groß, dass man sie vom Boden aus nicht erkennen kann. Und genau darin steckt das große Rätsel: Warum - und wie - haben die Menschen damals diese Figuren gescharrt, wenn sie sie doch gar nicht sehen konnten?

Die Deutsche Maria Reiche, die jahrzehntelang in der Nasca-Ebene forschte, sah in den Linien und Figuren einen riesigen Kalender, da einige Linien in Richtung der Sonnenwendpunkte verlaufen. Neuere Untersuchungen gehen jedoch davon aus, dass die überdimensionalen Zeichnungen im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsritualen stehen.

Einige der Nazca-Figuren: der Kolibri, der Baum, der besonders phantasievoll gestaltete Flamingo, der Kondor und der Affe.

Das übliche touristische Programm von Nasca habe ich bereits vor 13 Jahren abgespult, insbesondere den Flug in einer Cessna über die Nazca Lines. Eine Wiederholung spare ich mir aus mehreren Gründen. Zum einen haben sich die Preise für diese Flüge mehr als verdreifacht. In den letzten Jahren gab es mehrere Abstürze und Notlandungen, so dass die Bestimmungen verschärft wurden. Die Wartungskosten sind daher für die Betreiber höher, und während der Flüge sitzen nun zwei Piloten und weniger Passagiere in den Maschinen.

Ein weiterer Grund für den Verzicht auf den Flug: Mir wurde damals in der kleinen Maschine so wahnsinnig schlecht, dass ich von dem Blick auf die Wüstenzeichnungen eigentlich überhaupt nichts hatte. - Und drittens: Noch immer ist es mein Traum, auf dieser langen Reise um den Globus nie den Kontakt zu Mutter Erde zu verlieren. Es soll eine Umrundung unseres Planeten ohne einen einzigen Flug werden. Derzeit versuche ich, die Überfahrt von Südamerika nach Afrika für das kommende Frühjahr zu organisieren. Segelboote fahren wegen der Winde und der Strömungen nur in der umgekehrten Richtung (-> Kapstadt-Recife 2001), es kommt also nur ein Kreuzfahrt- oder ein Frachtschiff in Frage. Kreuzfahrt scheidet allerdings aus Kostengründen aus. Und bei den Frachtschiffen sieht es in letzter Zeit auf dieser Route mau aus. Die Recherche beschäftigt mich schon seit einigen Monaten und führt hoffentlich doch noch zum Erfolg. (Vielen Dank auch an Bettina in Göttingen, die mich bei der Suche unterstützt.)

Die Figuren "Hände" (Foto) und "Baum" kann man auch ohne einen Flug erkennen, wenn man auf  den Aussichtsturm an der Panamericana nördlich von Nasca klettert. Die "Hände" werden mitunter auch als "Frosch" interpretiert.

Am Morgen des Aufbruchs in Nasca ist das Seilschloss am Fahrrad an einer Stelle nass. Ich wische es mit den Fingern trocken. Dann plötzlich Verwunderung: Warum ist das Schloss nass? In Nasca hat es seit Monaten nicht geregnet. Ich schnuppere an den Fingern - bäh! Eine Katze hat an dem Schloss ihr Revier markiert. Mal sehen, wie sie damit klarkommt, dass ihr Territorium bald bis zum Titicacasee reicht.

So eintönig sich die peruanische Pazifikküste gibt, so vielfältig ist die Lebensgrundlage der Menschen. Natürlich wird Fischfang betrieben, wobei die Gewässer hier leider schon überfischt sind. Hühnerzucht ist ein anderer großer Wirtschaftssektor - immer wieder sieht man in den weiten Sandfeldern langgezogene weiße Hallen aus Plastikplanen, in denen die Lieblingsmahlzeit der Peruaner heranwächst. Man riecht die bedauernswerten Tiere schon aus der Ferne. Weiter fallen die vielen Minen am Rande der Panamericana auf; Peru ist, wie auch Bolivien und Nordchile, reich an Bodenschätzen. Und an einigen Strandabschnitten ernten Menschen, die in einsamen Hütten am Strand wohnen, Algen aus dem Meer.

Ocoña, Flussoase im Süden Perus.

Auch im Süden Perus gibt es einige wenige Flussoasen. Sie sind viel schärfer begrenzt als die im Norden, wo die Flusstäler weit sind und die Bewässerungskanäle in die Breite gezogen werden können. Bei der Fahrt durch den Süden sind solche Flussoasen plötzlich da und gleich auch schon wieder weg. Stundenlang radelt man auf der Panamericana durch Sand- und Geröllwüste, manchmal in Serpentinen an sehr steiler Küste, und dann fällt abrupt die Straße ab - unvermittelt ist man in einem großen grünen Garten. Jeder Quadratmeter wird in diesen Tälern für den Obst-, Gemüse- und Getreideanbau genutzt. Yauca zum Beispiel lebt ganz und gar von Oliven. Rechts und links der Straße verkaufen die Bewohner in kleinen Buden Olivenöl und auch die Oliven im Ganzen. Nach ein paar Hundert Metern ist man durch den Ort hindurch, klettert wieder hinauf in die Wüste - und schon scheint Yauca nur ein kurzer Traum gewesen zu sein.

Der peruanische Abschnitt der Panamericana folgt der Pazifikküste auf rund 2000 Kilometern. Selten gibt es hier einen kompletten Kilometer ohne Kreuze für Unfallopfer am Straßenrand. Selbst auf langen, übersichtlichen Geraden fehlen diese Kreuze nicht. Oft stehen auf der einen Straßenseite mehrere Kreuze, drei, fünf, sieben oder mehr, und auf der anderen Seite eines. Man kann sich ausmalen, was passiert ist: Ein Lastwagenfahrer ist eingeschlafen und in einen entgegenkommenden Bus gerast. Oder umgekehrt. Doch vor allem unnötige, riskante Überholmanöver vor Kuppen und in Kurven sind eine häufige Unfallursache in Peru. Hirnlose Fahrer überholen geradezu zwanghaft, um nach einer Stunde vielleicht eine Minute früher am Ziel anzukommen. Oder eben gar nicht.

Auf den peruanischen Straßen geht es deutlich aggressiver zu als in den Ländern weiter nördlich. Auch dort gibt es haarsträubende Manöver. Aber der Verkehr rollt insgesamt langsamer. Wenn in Kolumbien jemand in einer Kurve überholt und ein Auto entgegenkommt, bleibt immer noch Zeit, auf der einen Seite ein bisschen zusammenzurücken, auf der anderen Seite auf den Randstreifen auszuweichen oder mit zwei Rädern die Straße notfalls zu verlassen - die Genötigten sind nicht einmal aufgebracht. Am Ende kommen alle aneinander vorbei.

900 Kilometer südlich von Lima biegt die Straße nach Osten ab und führt hinauf in die Anden zum Titicacasee. Eine Zwischenstufe in rund 2000 Metern Höhe bietet die Gelegenheit, sich etwas zu akklimatisieren. Ein paar Tage verbringe ich in der "weißen Stadt" Arequipa, auch den dritten Geburtstag, den ich auf dieser Reise feiere.

Das ist wirklich nett: Kurz hinter Arequipa haben die Peruaner einen Gedenkstein zu meinem Geburtstag aufgestellt.

 

 

Dann folgt die zweite Stufe auf dem Weg ins Hochland. Der erste Tag hinter Arequipa ist gut zu mir. Ein freundlicher Rückenwind unterstützt mich, so dass ich wider die Vernunft in einem Satz auf 4000 Meter aufsteige. Kurz nach Sonnenuntergang radele ich in dem kleinen Straßendorf Cañahuas ein. Sehr schnell kommt mit der Dunkelheit die Kälte. In einem der Restaurants, die den Durchgangsverkehr bedienen, bestelle ich Caldo de Gallina. Das ist in den letzten Wochen mein Lieblingsgericht geworden: eine Schüssel Hühnerbrühe mit Nudeln, einem gekochten Ei, Kartoffeln, Yams und einer guten Portion Hühnchenfleisch.

Eigentlich wollte ich nach dem Essen mein Zelt neben dem Restaurant aufstellen, aber sie haben auch Betten in einfachen Holzabteilen über dem Speisesaal. Die junge Dame gibt mir das wärmste Zimmer, wie sie betont. Das Wellblechdach ist hier abgehängt mit einer schweren Kunststoffplane. Es fällt also wohl weniger Kälte von oben herab. Das Bett hängt genauso durch wie die Plane darüber; es schläft sich darin wie in einer Hängmatte. Obwohl es nach ihren Worten das wärmste Zimmer ist, schichtet die Lady fünf grobfaserige Decken auf die Matratze (übrigens ohne jeglichen Überzug).

Alpakas und Lamas fühlen sich im Hochland wohl.

 

 

Die Nacht wird kühl. Ich bleibe bis eine Stunde nach Sonnenaufgang unter dem dicken Deckenstapel liegen. Als ich um 7 Uhr aufstehe, zeigt mein Thermometer neben dem Bett schon wieder ein Grad plus an.

An diesem Morgen spüre ich, dass ich mich am Vortag übernommen habe. Alles läuft schlecht an diesem Tag. Als ich die Nase freiblase, setzt Nasenbluten ein, das nicht zum Stillstand kommen will. Den Kopf nach oben geneigt und ständig tief einatmend, radele ich einen Kilometer, trockne die Nase vorsichtig mit Klopapier und gehe den nächsten Kilometer an. Der freundliche Wind von gestern hat um 180 Grad gedreht und wird nun zum Feind. Er greift mich so mächtig von vorn, dass sich die Ebene anfühlt wie eine Steigung, der Tacho meldet 12 bis 13 km/h. Dann kommen wirklich Steigungen. Mit dem Wind, den sauren Beinen, der dünnen Höhenluft fühlen sie sich an wie senkrechte Wände. Mittags gebe ich nach nur 50 Kilometern auf.

Das Dorf Imata liegt gut 4400 Meter über dem Meer, doch außer der dünnen Luft spüre ich nichts von der Höhe. Keine Kopfschmerzen, keine Wahrnehmungsstörungen, keine Appetitlosigkeit - also keine Höhenkrankheit.

Oder doch?

Die Nacht wird ganz übel. Um ein Uhr wache ich auf und muss heftig nach Luft schnappen. Offenbar habe ich eine Weile nicht geatmet. Irgendwann schlafe ich ein, wache aber gleich wieder auf, weil der Körper vergisst, dass er weiteratmen muss. So geht das die ganze Nacht. Ich nicke ein, wache sofort hechelnd wieder auf. Es ist zum Verzweifeln: Sobald ich einschlafe, hört die Lunge auf zu arbeiten.

Laguna Lagunillas

Morgens trinke ich einen großen Becher Mate de Coca, Tee aus Coca-Blättern. Die Pflanze hat den Ruf, Höhenprobleme zu lindern. Imata ist kein Ort, an dem man einen Urlaubstag zusätzlich verbringen möchte. Völlig übermüdet begebe ich mich also auf die Straße, um wieder den Kampf gegen den Wind aufzunehmen. Die Landschaft ist karg und in dieser Höhe natürlich baumlos. Immer häufiger sind in der weiten Hochsteppe Alpaka-Herden zu sehen, auch vereinzelte Lamas und ab und zu sogar ihre wilden Verwandten, die Vicuñas.

Bei Crucero Alto hat die Straße bei gut 4500 Metern ihren höchsten Punkt. Der Weg führt hinunter zur Laguna Lagunillas, die einer kleinen Flamingo-Kolonie als Heimat dient. Danach geht's wieder langgezogen bergauf. Die 75 Kilometer an diesem Tag sind für mich erneut ein Kraftakt. Doch die Nacht in Santa Lucia ist beschwerdefrei und sehr erholsam. Liegt es an den Coca-Blättern oder an der geringeren Höhe (4000 m)? Die Frage bleibt offen.

Der vierte Tag nach Arequipa bringt mich zu einem wichtigen Zwischenziel: Bei Puno erreiche ich den Lago Titicaca. Tiefblau liegt der größte Hochgebirgssee der Erde vor mir. An seinem Ufer werde ich eine Zeitlang verweilen und die spannende Reise durch den Westen Boliviens vorbereiten.

 
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