Der lange Freitag

Mit der "Hanjin Ottawa" über den Pazifik

26.6.2014 - Prince Rupert / Kanada (26167 km)

"Mit dem Frachtschiff nach Kanada?" staunten die chinesischen Siemens-Kollegen in Nanjing. "Ach so, das Fahrrad geht mit dem Schiff. Und du fliegst voraus, oder?"

Wollte ich fliegen, könnte das Fahrrad gleich mit nach Kanada gebeamt werden. Das ist heutzutage überhaupt kein Problem. Man schraubt die Pedale ab, dreht den Lenker ein, vielleicht muss man das Fahrrad auch noch verpacken. Und dann geht's ab als Sperrgepäck in den Laderaum. Das habe ich schon mehrmals auf Kurzreisen nach Äthiopien praktiziert, als ich nur wenig Zeit hatte.

Jetzt aber ist die Zeit reichlich, dafür habe ich in den vergangenen acht Jahren gesorgt. Nun möchte ich unsere Erde so erleben, wie sie ist: groß und weit.

Die Route der Hanjin Ottawa von Shanghai nach Prince Rupert.

Es war nicht einfach, "mein" Schiff zu finden. Da Überfahrt gegen Arbeit auf Frachtschiffen praktisch nicht mehr möglich ist, kamen nur Schiffe in Betracht, die ganz offiziell Passagiere mitnehmen. Weitere Beschränkungen engten die Auswahl mehr und mehr ein:

Ein Kreuzfahrtschiff kam aus Preisgründen nicht in Frage; davon abgesehen sind auch nur wenige Cruiser im nördlichen Pazifik unterwegs.

Nur wenige Frachtschiffe nehmen Passagiere mit.

Von Russland aus geht gar nichts.

In Südkorea kann man aus rätselhaften formalen Gründen in die meisten Frachter nicht mehr einsteigen (Aussteigen ist möglich!)

Bei Abfahrt von einem chinesischen Hafen hat man wegen der knappen Visumgültigkeit nur ein kleines Zeitfenster.

Die Passagierrouten von Japan führen zu weit in den Süden Nordamerikas.

Die Einreise in die USA mit einem Frachter erfordert ein aufwendiges und teures "B1/B2"-Visum (die Einreise per Flug nicht).

Zwei Container-Schiffe blieben übrig: Die Hanjin Ottawa und das Schwesterschiff Hanjin Geneva, die auf gleicher Route zwischen China und Nordamerika pendeln. Die Reise von Shanghai nach Prince Rupert in Kanada dauert etwa 14 Tage, Abfahrt in Shanghai alle zwei bis vier Wochen.

Im Hafen.

Feste Auslaufzeiten gibt es allerdings nicht, nur ein ungefähres Datum. Meist haben die Schiffe eher Verspätung, die Hanjin Ottawa wird dieses Mal knapp zwei Tage später ablegen als ursprünglich geplant. Man muss jedoch auch eine vorzeitige Abfahrt einkalkulieren. Schon deswegen ist eine längere Frachtschiffreise nicht so einfach zu planen wie ein Flug zwischen den Kontinenten.

Wirklich lästig war es für mich, im Vorfeld ein ärztliches Attest einzuholen, das meine Reisetauglichkeit nachweist. Kein Witz. Nach 14 Monaten auf dem Fahrrad brauchte ich eine offizielle Bestätigung meiner Fitness. Das gehört zu den Formalitäten, mit denen sich die Reederei absichert, da auf den Frachtschiffen kein Arzt mitfährt. Und wenn ein Passagier oder Besatzungsmitglied schwer erkrankt, muss das Schiff gegebenenfalls weite Umwege fahren. Das kostet schnell Zehntausende Euro - deswegen ist im Fahrpreis auch noch eine sogenannte Deviationsversicherung enthalten.

Das Attest durfte nicht älter sein als ein paar Wochen. Fragen nach hässlichen Krankheiten wie Tuberkulose wurden auf dem Ankreuzbogen gestellt, ganz unten war die Angabe zu machen, seit wie vielen Jahren ich Patient beim unterzeichnenden Doktor bin. Patient bei einem chinesischen Arzt? In China würde ich keinen finden, der mich länger als ein 365stel Jahr kennt. Abschließend auf dem Attest gefordert: Telefonnummer, Unterschrift und Stempel des Arztes.

Einige Zylinder der 70.000-PS-Maschine.

Unterschrift und Telefonnummer wären nicht das Problem. Jeden Tag hätten etliche Chinesen das Papier unterschreiben können. Als Telefonnummer konnte ich die meiner chinesischen SIM-Karte angeben. Da hätten sie ruhig anrufen dürfen. Nur das mit dem Stempel war vertrackt. War mir in China überhaupt schon ein einziger Stempel begegnet? Mit geschärftem Blick fiel mir eines Tages beim Friseur in Nanjing einer auf. Es war nicht herauszufinden, was der Stempel sagte. Der Friseur sprach kein Englisch und ich nur zehn Worte Chinesisch. Wahrscheinlich stempelte der Stempel: "Bezahlt".

Kurz bevor ich "Bezahlt" unter das Attest stempelte, kam mir doch noch eine legale Lösung in den Sinn: eine Fernkonsultation via Internet bei einem Arzt in Deutschland, der mich sogar schon 16 Jahre lang kennt. Als letztes von neun Dokumenten ging das eingescannte Attest per Mail an die Reederei in Buxtehude.

 

Am späten Vormittag des 5. Juni stehe ich am Pier vor der Hanjin Ottawa. Die Schiffswand ist hoch, die Gangway lang und schmal. Auf dem Weg hinauf mit den ersten Packtaschen kommt mir ein philippinisches Crew-Mitglied entgegen, um Gepäck abzunehmen. Das Fahrrad tragen wir gemeinsam hoch, einer packt es vorn, ich greife hinten. Allein hätte ich es die enge Gangway bestenfalls über Kopf hochtragen können.

Oben an Deck empfängt mich der Kapitän mit einem fröhlichen "Guten Tag! Huth ist mein Name." Die Hanjin Ottawa läuft unter deutscher Flagge, ein Zufall, denn nach der Nationalität habe ich das Schiff ja nicht auch noch aussuchen können. Charterer ist die "Hanjin Shipping Co. Ltd." in Südkorea, bereedert wird es von NSB, der "Niederelbe Schifffahrtsgesellschaft Buxtehude". In den kommenden zwei Wochen wird der regelmäßige Mittagsgruß an Deck "Mahlzeit" sein.

Fast so groß wie meine Wohnung in Erlangen: die Kabine auf der Hanjin Ottawa.

 

Die Hanjin Ottawa hat Platz für fünf Passagiere. Auf dem F-Deck - quasi im 6. Stock - gibt es zwei Doppelkabinen á 30 Quadratmeter und auf dem E-Deck eine 18-qm-Einzelkabine. Reserviert für mich war die günstigere Einzelkabine. Da aber keine weiteren Passagiere mitfahren, teilt mir der Kapitän freundlicherweise eine der großen Kabinen zu. Der pure Luxus! Abgetrennt von Schlafraum und Bad ein helles Wohnzimmer mit Schränken, einem Schreibtisch, Wohnzimmertisch, zwei Sofas und zwei Sesseln (hier hätte schon ein Drittel der Crew Platz), Kühlschrank, Stereoanlage und Fernseher. Radio- und TV-Empfang gibt es allerdings nur in Küstennähe. Das bedeutet, dass wir von der Fußball-WM in der ersten Woche nur die groben Fakten mitbekommen werden. Die Reederei wird einmal am Tag Spielergebnisse und -berichte per eMail an alle ihre Schiffe auf den Weltmeeren senden.

Herr Huth führt mich weiter durch das Schiff. Hinauf zur Brücke, wo der Zweite Offizier gerade über die Seekarte gebeugt ist, hinunter zum C-Deck in den Fitnessraum, der mit einem Stepper, Hanteln, Rudermaschine, Tischtennisplatte und Trimmrad ausgestattet ist. Angeschlossen sind eine Sauna und ein kleiner Pool. Der wird allerdings nicht geheizt und nur dann gefüllt, wenn das Meerwasser eine erträgliche Temperatur hat. Auf unserer Reise wird er trocken bleiben.

Vor meinem Wohnzimmer werden die Container aufgestapelt.

 

Während ich mich in meiner Kabine einrichte, schweben draußen die Container vorbei. Mehrere Portalkräne be- und entladen gleichzeitig das Schiff. Auf dem Pier fahren ununterbrochen Lastwagen ein, um Container aufzunehmen oder herzugeben. Diese Lastwagen waren immer so groß, wenn sie mich auf der Straße überholten. Jetzt, unter den gigantischen Kränen, sind sie nur noch winzige Ameisen.

Nachts um drei Uhr schwebt der letzte Container ein. Nur wenige Minuten später legen wir im Hafen von Shanghai ab. Schwimmende Ameisen ziehen mühsam das Schiff seitlich von der Hafenmauer ab, die kleinen Schlepper arbeiten gegen Unmengen von Wasser, die sich unter dem Schiffsrumpf durchschieben müssen. Dann bewegt sich das Schiff aus eigener Kraft - 70.000 PS hat die Maschine - dem Ozean entgegen. Eine Stunde fahren wir noch auf dem kilometerbreiten Jangtse-Fluss, bevor wir mit ihm den Pazifik erreichen. Ich darf das alles auf der Brücke mitverfolgen, der Kapitän hatte betont, dass ich dort jederzeit willkommen sei.

Abschied von Shanghai nachts um drei Uhr.

Auch draußen auf dem Ozean schwankt der Boden nur leicht. Seekrankheit ist nicht zu befürchten, heißt es. Erstens sind die Wettervorhersagen gut, außerdem liegt das Schiff bei seiner Größe recht ruhig im Wasser. Die Hanjin Ottawa ist 250 Metern lang und 40 Meter breit (ungefähr die Fläche von zwei Fußballfeldern) und hat eine Verdrängung von 55.000 Tonnen, als wir China verlassen.

Im südkoreanischen Hafen von Pusan werden am nächsten Tag mehr Container auf- als abgeladen. Den langen Weg über den Pazifik fährt das Schiff fast vollbeladen und hat nun 77.000 Tonnen Verdrängung. Leider ist damit die Aussicht aus meiner Kabine auf das Meer verbaut. Immerhin haben sie mir keinen Container direkt vor die Nase gestellt, so dass es weiterhin angenehm hell in meinem Wohnzimmer ist.

Der deutsche Kapitän Michael Huth auf der Brücke.

 

Wir werden nun zwölf Tage ohne Landgang auf dem Meer verbringen. Ein wenig Sorge habe ich schon, dass mit der Zeit Langeweile aufkommen könnte. Tadeucz, der Chief Officier aus Polen, kann sich über meine Bedenken nur wundern. "Das sind doch Peanuts", sagt er, ganz sachlich und ohne Überheblichkeit. Für ihn sind viel längere Perioden ohne Landgang normal. Seine längste Reise ohne festen Boden unter den Füßen verlief von Korea über Australien und um Südafrika herum nach England: 62 Tage war er ununterbrochen an Bord. Es war ein Bulk Carrier, der mit 11 Knoten lief, während die Container-Schiffe üblicherweise 16-18 Knoten fahren. Sein längster Aufenthalt auf einem Schiff ohne Heimaturlaub dauerte auf den Tag genau ein Jahr. "Das war aber nicht gut", sagt Tadeucz. "Als ich ging, war meine Tochter vier Monate alt, als ich sie wiedersah, war sie fast eineinhalb."

Steward June P. Ocampo (links) und der Koch Marlon A. David von den Philippinen.

 

Der Rhythmus bei den europäischen Besatzungsmitgliedern auf NSB-Schiffen ist üblicherweise: drei Monate auf dem Schiff -- drei Monate Freizeit zu Hause. Wegen der hohen Arbeitsdichte an Bord - zwischen 50 und 70 Stunden pro Woche inklusive Sonn- und Feiertagen - kommen die Seeleute dabei über das Jahr etwa auf die gleiche Arbeitsstundenzahl wie ein "normaler" Arbeitnehmer in Deutschland.

Weit über die Hälfte der Crew stammt von den Philippinen. Billige Arbeitskraft, wie sie rund um den Globus auf Schiffen eingesetzt wird. Auch der Koch und der Steward sind Philippinos, sie bereiten und servieren mal asiatische, mal europäische Gerichte. Morgens und abends stehen außerdem Wurst, Käse und dunkles Brot auf dem Buffettisch. Dunkles Brot! Eine seltene Delikatesse.

Verbindet man auf der Landkarte Shanghai und Prince Rupert mit einer geraden Linie, verläuft die deutlich südlich der Aleuten-Inselkette. Doch die Projektion der runden Erde auf ebenes Papier verzerrt die Wirklichkeit. Auf einem Globus erkennt man, dass der kürzeste Weg durch die Beringsee führt. Wegen der guten Wettervorhersagen auch für den rauhen Norden fahren wir auf dieser kürzesten Linie.

Die Zeitumstellung verteilt der Kapitän gleichmäßig auf die gesamte Reise. Würden wir uns exakt nach den Längengraden richten, müssten wir die Uhr zunächst in langen und weiter nordwärts in immer kürzeren Abständen vordrehen, weil die Längengrade dort ja näher und näher zusammenrücken. Ganz oben am Pol ist das extrem: Wenn ein Polarforscher in einem engen Kreis um die Würstchenbude am Nordpol läuft, stellt er alle paar Schritte die Uhr eine Stunde vor.

"Container", erklärt der Kapitän im Scherz dem Chefingenieur, als der aus dem Fenster schaut.

 

Da wird auch gleich das nächste Problem deutlich: Läuft er dreimal um den Nordpol, ist er denen, die zur gleichen Zeit in Nürnberg in einem Büro sitzen, drei Tage voraus. Davor sollten er und die Nürnberger natürlich bewahrt werden. Deswegen gibt es die Datumsgrenze. Sobald der Forscher den 180. Längengrad überschreitet, muss er die Uhr eine Stunde vorstellen, den Kalender aber wieder einen Tag zurückblättern. So bleibt dann alles in Ordnung.

Wir auf der Hanjin Ottawa lassen das Kalenderblatt stehen, als eigentlich der 14. dran wäre. Freitag, der 13. Juni 2014 wird ein 48-Stunden-Tag.

An diesem langen Freitag fahren wir gegen 33 Uhr durch die Inselkette der Aleuten hinein in die Beringsee. Ein paar Stunden lang ist im Dunst Land zu erkennen, eine unbewohnte Insel der westlichen Aleuten. Ich bin wieder auf der Brücke, wo man nahezu einen Rundumblick hat.

Über Langeweile auf dem Schiff kann ich mich wirklich nicht beklagen. Die Crew ist offen und auskunftsfreudig. Der Zweite Ingenieur führt mich an einem Vormittag durch den riesigen Maschinenraum. Alles ist hier überdimensional: die Kessel, die Pumpen, die Werkzeuge. Der Antriebsmotor ist fast 20 Meter lang, er hat zehn Zylinder und verbraucht bei gemäßigtem Tempo 70 Tonnen Schweröl pro Tag. Bei Maximaltempo - 26 statt 18 Knoten - steigt der Verbrauch auf das Dreieinhalbfache. Die Maschine verbrennt dann rund 170 Kilogramm Öl pro Minute. Getankt wird in den Häfen nicht aus Tanklastern, sondern aus Tankschiffen.

Die östlichen Aleuten in der Unimak-Passage.

Einer der drei Hilfsmotoren treibt mit 2.000 PS einen großen Stromgenerator an, besonders viel elektrische Energie verbrauchen die Kühlcontainer. Die Wasseraufbereitung kommt dagegen ohne zusätzliche Energie aus. Süßwasser wird aus dem Meerwasser mit überschüssiger Wärme gewonnen und steht so reichlich zur Verfügung, dass auch die Toiletten damit gespült werden können.

Zwei Tage fahren wir nördlich der Aleuten, bis wir die Beringsee durch die Unimak-Passage wieder verlassen. Um fünf Uhr morgens steige ich hinauf zur Brücke und leiste dem wachhabenden Offizier Gesellschaft. Es ist stark bewölkt, aber die Sicht ist gut. Die Berge und Vulkane auf den Inseln sind verschneit. Dann sehen wir die ersten Wale. Sie spielen vor uns im Wasser und tauchen erst in unmittelbarer Nähe des Schiffes ab.

Ankunft in Prince Rupert.

14 Tage nach dem Start in Shanghai legt die Hanjin Ottawa kurz vor Mitternacht im Hafen von Prince Rupert an. Ich hatte Bedenken, dass sich die Zeit zäh ziehen könnte. Aber jetzt ist es eher bedauerlich, dass die Reise schon ist zu Ende. Zwei Wochen auf See - wie Tadeucz neulich sagte: Das sind doch Peanuts.

 
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