Fahr'n, fahr'n, fahr'n ...

... auf der Autobahn (Mexiko)

13.2.2015 - Bacalar / Mexiko (40279 km)

Gegen Ende meiner ersten Weltumradlung (www.lemlem.de) schrieb mir 2004 ein Freund, dass er ja eigentlich dachte, ich radelte fröhlich pfeifend auf einsamen Straßen durch die Landschaft. Er antwortete auf meine Jammer-Mail, in der ich die Zustände auf Indiens Straßen beschrieb und konstatierte, dass die sichersten Wege oft die Autobahnen mit ihren breiten Randstreifen sind.

Peter - der erwähnte Freund - war desillusioniert.

Es gibt viele Gründe, warum der Reiseradler fern der Heimat nur selten auf solch idyllischen Wegen radelt wie in Mitteleuropa, wo es inzwischen ja ein regelrechtes Netz von Fernradwegen gibt. Schon in Südeuropa wird es da dünner, und im Iran - zum Beispiel - wäre ein Radweg ein Traum. Dort sind sogar Nebenstraßen selten, dafür ist dieses riesige Land einfach viel zu dünn besiedelt. Östlich von Teheran ist die Auswahl sehr beschränkt.

Probesitzen auf einem Polizeifahrrad in Guadalajara (Foto: Franz Aigner)

Besonders unangenehm war zu Beginn dieser Reise das Radfahren im Süden Russlands, auf dem Weg von Moskau nach Kasachstan. Die M5 ist schmal, stark befahren, und die Lastwagenfahrer hassten mich, weil ich für sie ein Verkehrshindernis war. Jeden Tag gab es Beinaheberührungen. Aber es bot sich keine Alternative zu der Hauptstraße, denn die Dörfer, die abseits liegen, sind durch Stichstraßen mit der M5 verbunden, doch nur sehr selten untereinander.

Auch hier in Mexiko führt mitunter kein Weg an der Autobahn vorbei. Wenn man etwa Guadalajara in Richtung Mexico City verlässt, bleibt gar keine andere Wahl. Hört sich nach Stress an, aber die Autobahn hat - wie in Indien - einen großen Vorteil: den breiten Seitenstreifen, der die Sicherheit für Radler enorm erhöht. Deswegen lockt die cuota (Bezahlstraße) mitunter auch dann, wenn parallel dazu eine libre führt. Die kostenpflichtigen Straßen sind nicht nur breiter, sondern meist auch weniger befahren, da sie sehr teuer sind. (Fahrradfahrer dürfen die Mautstellen aber kostenlos passieren.)

Spaß macht das allerdings nicht immer. Die mexikanischen Autobahnen sind langweilig, sie verlaufen an den Städten und Dörfern vorbei. In den Ballungsräumen, wo sie stärker befahren sind, sind sie laut. Da werden außerdem die Aus- und Zufahrten gefährlich, weil man einen schnellen Verkehrsstrom queren muss. Ich nehme die cuotas dort, wo es keine Alternative gibt und gelegentlich auch dann, wenn es insgesamt sicherer erscheint.

Juan sammelt Plastik und Aluminium neben der Autobahn nach Mexiko City

Wegen der schlechten Nachrichten, die aufgrund der ausufernden Kriminalität in den vergangenen Jahren aus Mexiko kamen, hatte ich Angst vor diesem Land. Die Baja California würde ruhig sein - das sagten sogar die an sich übervorsichtigen US-Amerikaner. Aber was sollte mich auf dem weiteren Weg durch Festland-Mexiko erwarten? Im Laufe der ersten Wochen ergab sich schließlich ein Bild. Wie das eigentlich immer ist: Du musst näher herankommen, um die Situation besser einschätzen zu können.

Es gibt Brennpunkte - und das sind eigentlich nicht Punkte, sondern ganze Bundesstaaten -, die man tatsächlich meiden sollte. Vor allem sind es die Staaten Guerrero und Tamaulipas. Das Hauptproblem in diesen Regionen ist organisierte Drogenkriminalität im großen Stil, wie sie zuvor in Kolumbien verbreitet war. Kolumbien hat sich davon befreit - das Problem ist weiter in Richtung der Abnehmer gezogen, nach Norden, in Richtung USA. Nun sind Ratgeber aus Kolumbien in Mexiko, um dort bei der Bekämpfung der Drogenmafia zu helfen. Mit der Gewalt, die hier verbreitet ist, steigt die allgemeine Gewaltbereitschaft, die immer wieder auch Touristen betrifft. Einem Reiseradler, mit dem ich einige Tage zusammen war, ist im Süden Mexikos alles genommen worden: das Fahrrad und sämtliches Gepäck.

Ich reiste also mit sehr gemischten Gefühlen nach Mexiko ein. Die himmlische Ruhe auf der Baja California stimmte mich dann bereits zuversichtlich, und tatsächlich setzt sich die Offenheit und Freundlichkeit der Menschen nach dem Übersetzen auch im Staat Sinaloa fort. Autofahrer strecken anerkennend den Daumen in die Höhe, wenn sie mich überholen. Sogar die Lastwagenfahrer, weltweit ja eher coole Jungs, grüßen hier häufig ganz aufgeregt dicht hinter der Windschutzscheibe winkend.

Die Polizisten an den Kontrollpunkten heben ebenfalls grüßend die Hand - wenn sie mich nicht sogar Kraft ihres Amtes stoppen, um herauszufinden, woher genau ich komme und wohin ich denn wohl will. Entgegenkommende Zweiradfahrer grüßen ausnahmslos. Ich grüße auch die Menschen am Straßenrand, sobald Blickkontakt entsteht. Und der entsteht fast immer, weil das schwer bepackte Fahrrad bei ihnen Interesse erweckt.

Ganz Mexiko grüßt, und ich grüße ganz Mexiko.

"Gallo" signiert die Trinkflasche, die mir die Radler geschenkt haben.

Aber das Land grüßt nicht nur freundlich. Die Menschen möchten mir auch ständig etwas schenken. Das wirkt beinahe schon zwanghaft. Wie in Äthiopien in den Mini-Restaurants, wenn dem Gast am Nachbartisch das Essen gebracht wird: Sofort kommt die einladende Geste, doch bitte an seinem Essen teilzuhaben. Das ist eher ein traditioneller Reflex. Würdest du wirklich gleich aufspringen und dich neben den Äthiopier setzen, würde der sich ganz schön erschrecken. Du solltest vorher schon ein- oder zweimal ablehnen.

Hier in Mexiko scheint es ein echtes Bedürfnis zu sein, dem Reisenden etwas mitzugeben und auf diese Weise an seiner Reise ein klein wenig teilzunehmen. An einem späten Vormittag winken mich Mexikaner aus einem Strohdach-Restaurant zu sich herbei. Ich grüße sie und tue so, als würde ich die Einladung nicht erkennen. Nach 500 Metern überholt ein Pickup und stoppt mich am Straßenrand. Der Fahrer ist mir vom Restaurant gefolgt. Er eskortiert mich zurück zu den Strohdächern, wo seine Freunde mich gespannt erwarten. Sie fahren auch viel Fahrrad, meistens Mountainbike-Touren in der Gruppe durch die nähere Umgebung.

Die Pirámide del Sol in Teotihuacán

Ich werde quasi dazu gezwungen, ein zweites Frühstück einzunehmen. Während ich Rührei mit gekochtem Schinken und Tortillas esse, ruft der Pickup-Fahrer einen befreundeten Fahrradhändler an. Der rückt wenig später mit einem Sortiment von Reifen, Schläuchen und Trinkflaschen an. Mit Mühe kann ich die Reifen und Schläuche ablehnen. Aber eine weiße Trinkflasche nehme ich gern an und lasse sie von der kompletten Truppe signieren.

Händler in den kleinen Läden geben mir nach dem Einkauf gern noch etwas dazu, eine Flasche Wasser oder ein Päckchen Tortillas. Ein Ehepaar mit einer jungen, englischsprechenden Tochter stoppt sein Auto am Straßenrand, um nach dem Woher und Wohin zu fragen. Und um mir eine Warnweste zu schenken, die ich ständig tragen soll, damit man mich auf der Straße besser sieht.

Den kenn' ich doch...

 

Eines Morgens, als ich gegen die noch tiefstehende Sonne Richtung Südosten fahre, hält einmal mehr ein Auto an. Der Fahrer reicht mir eine Sonnenbrille heraus. - "Oh, danke!", wirklich sehr nett, aber ich trage ungern Sonnenbrillen. Er streckt noch einmal seinen Arm aus und noch einmal. Noch zwei Mal lehne ich höflich dankend ab. Und dann setzt er sie sich auf. Er hat sie gar nicht übrig! Es ist seine Brille, die er mir angeboten hat - seine einzige. Wir verabschieden uns, er braust weiter, und ich stehe gerührt am Straßenrand.

Warum nur hatte ich mich auf lauter Schlitzohren in Mexiko eingestellt? Auf Leute, die dich gerne übers Ohr hauen wollen, die immer wieder beim Wechselgeld schummeln. Ein völlig unberechtigtes Vorurteil, dass die Mexikaner den Gringo - oder den vermeintlichen Gringo - nicht achten und abfällig behandeln würden. Tatsächlich treffe ich hier auf sehr freundliche, ehrliche Menschen, offen, kontaktfreudig, mit einem sehr angenehmen Stolz. Keine Spur unterwürfig, aber eben auch nicht arrogant.

Mexico City, mit einem der größten Ballungsräume weltweit, umfahre ich nördlich über Teotihuacán. Dort sehe ich meine ersten mexikanischen Pyramiden. Die große, die Pirámide del Sol ist die drittgrößte auf der Erde - nach der berühmten Cheops in Gizeh und einer kaum bekannten und stark verwitterten Pyramide nur ein paar Hundert Kilometer von hier entfernt bei Puebla.

Mexikos bekannteste Pyramide: Kukulcán (Chichén Itzá).

Für den Besucher, der bisher allein die ägyptischen Pyramiden kennt, ist der flache Steigungswinkel der Pyramiden von Teotihuacán gewöhnungsbedürftig. Zudem sind sie aufwendig restauriert, was etwas von der Mystik nimmt, die man hier erwarten mag. Letzteres gilt besonders für Chichén Itzá in Yucatán. Die ganze Anlage hat eher den Charakter eines gepflegten Parks, die weltbekannte Kukulcán-Pyramide steht mitten drin wie aus dem Ei gepellt. Authentischer wirken da die Ruinen von Cobá, die nicht weit von Chichén Itzá im Regenwald liegen. Auch hier wird restauriert, aber nur soweit, dass die Bauwerke nicht zerfallen und nicht wieder überwuchert werden.

Ruine bei Cobá

Auf dem Weg zur Yucatán-Halbinsel zeichnet sich ab, dass ich in Mexiko wohl doch nirgendwo auf den Bus umsteigen muss. Die gefährlichsten Gebiete ließen sich bisher weiträumig umfahren, und auf der Halbinsel ist keine Gefahr mehr zu erwarten.

Eines Tages erreiche ich mit dem kleinen Ort Sanchez Magallanes den Golf von Mexiko. Beim Blick auf die Landkarte sollte man glauben, dass sich nun ein Badeort an den anderen reiht. Die Straße verläuft über mehrere Hundert Kilometer direkt am Meer, oft über schmale Landzungen, die den Golf von großen Lagunen trennen. Doch dieser Landstrich ist vollkommen einsam, die wenigen Ortschaften sind kleine, ursprüngliche Fischerdörfer, weit und breit ist kein Tourist zu sehen.

Großinvestoren haben diese Küstenlinie wohl einfach noch nicht entdeckt. Und wenn sie eines Tages Sanchez Magallanes entdecken, werden sie am Strand erst einmal gründlich aufräumen müssen. Er gleicht einer Müllhalde. Die Menschen haben so viel unberührte Natur um sich herum, dass sie deren Wert offenbar anders einschätzen, als Bewohner dichter besiedelter Weltgegenden das tun würden. Aber auch der Einzug der Plastikverpackung hat seinen Anteil an der Umweltverschmutzung. Über Jahrhunderte konnten die Menschen bedenkenlos Verpackungen in die Landschaft werfen, denn das waren Bananenblätter und anderes Naturmaterial. Heute werfen sie die Verpackungen immer noch fort, an den Strand, in den Wald, aber sie verrotten nicht mehr.

Den Strand von Sanchez Magallanes hatte ich mir anders vorgestellt.

Hinter Sanchez Magallanes wird die Besiedlung immer dünner. Die Palmen wachsen hier wie bei uns Löwenzahn und Gänseblümchen; sie gehören niemandem und jedem. Gelegentlich kommt ein Pickup vorbei, der Fahrer klettert auf ein paar Palmen und erntet die Kokosnüsse. Kämen Eisenbahnzüge mit hundert Waggons vorbei, könnte man auch die füllen.

Die ganze Yucatán-Halbinsel ist paradiesisch ruhig. Den meisten Lärm machen die Tiere. Hier radele ich wirklich fröhlich singend und pfeifend über einsame Straßen - genau so, wie mein Volleyballfreund, der Peter, sich das immer schon vorgestellt hat.

 
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Maks

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