NH5 - Flug nach Kalkutta

(Indien)

17.2.2014 - Imphal / Indien (20254 km)

Am Ortsausgang von München steht ein dunkelhäutiger Mann am Straßenrand und macht ein Handzeichen, wie man es aus dem Nahen und auch aus dem Ferneren Osten kennt: den Arm nach unten geneigt, die Hand winkt - bitte anhalten. Ich kurbele das Seitenfenster runter, er fragt, ob ich ihn mit nach Nürnberg nehmen kann.

Kali steigt in meinen VW-Bus ein. Er ist Inder, stammt aus Vijayawada im Südosten, arbeitet im 800 Kilometer entfernten Pune in einem Call Center. Kali war beruflich eine Woche in London. Bevor er nach Indien zurückfliegt, besucht er noch einige Freunde, die in Deutschland als Software-Entwickler beschäftigt sind.

Während wir uns unterhalten, rückt Kali in seinem Sitz hin und her; es ist zu spüren, dass er sich nicht ganz wohl fühlt. "Was ist los?" frage ich.

"Hm, kannst du nicht etwas langsamer fahren?"

"Wir fahren doch gerade mal 110. Wir sind ja jetzt schon fast ein Verkehrshindernis."

"Was? Ochsenkarren und Rikschafahrer sind ein Verkehrshindernis, aber doch nicht ein Auto, das mit 110 dahinrast. - Ach überhaupt ... wir haben hier noch kein einziges Gespann und noch keinen Radfahrer gesehen."

"Die dürfen auf Autobahnen nicht fahren."

"Und wozu ist dann dieser breite Seitenstreifen?"

Ich erkläre es ihm.

Allein für liegengebliebene Autos? - "Platzverschwendung!" steht auf seinem Gesicht.

"Kannst du nicht doch etwas langsamer fahren?" bittet er noch einmal. "Wie willst du denn bei diesem Tempo ausweichen, wenn uns jemand entgegenkommt."

Kali aus Vijayawada

"Jemand entgegenkommt? Das ist extrem selten. Normalerweise erlebst du das nicht ein einziges Mal in deinem Leben. Übrigens melden die es im Radio, wenn jemand in der falschen Richtung unterwegs ist."

"Jeden einzelnen, der auf dem Highway entgegenkommt, melden sie im Radio? Da bleibt ja gar keine Zeit mehr für Musik und Werbung. - Und was macht denn jemand, der mit dem Traktor nur ein, zwei Kilometer von seinem Dorf bis zum Feld fahren will, wenn das Dorf auf der falschen Seite des Highways liegt? Dann muss er doch gegen den Verkehr fahren."

"Es gibt hier nicht nur die Autobahn. Es gibt auch noch kleinere Straßen, die parallel verlaufen."

"Aber wenn jemand noch schnell bis zur Imbissstube auf den nächsten Parkplatz fährt, um was zu essen zu holen, und dann ein paar Kilometer zurückfahren will? Was macht denn der? Ihr habt ja nirgendwo Lücken in dieser hohen Abgrenzung zwischen den Spuren. Der muss ja auf der gleichen Seite wieder zurückfahren.

"Nee, der muss in der richtigen Richtung bis zur nächsten Ausfahrt weiterfahren, die Seite wechseln und dann dort wieder zurückfahren."

Kali schaut mich ungläubig an.

Er erzählt ein bisschen von Indien und von seiner Arbeit im Call Center. Dann wird er wieder unruhig.

"Warum fahren hier eigentlich alle im Zickzack? Können die nicht die Spur halten? Das ist doch gefährlich, dieses ständige links - rechts - links - rechts."

"Du darfst nur auf der linken Spur überholen und die linke Spur auch nur zum Überholen benutzen. Grundsätzlich musst du rechts fahren."

"Und bei uns wird man gerade dazu ermahnt, die Spur zu halten. Überholen kannst du in Indien, wo du willst. - Übrigens hupt man bei uns vor dem Überholen. Das tut hier niemand. Die Autos in Europa haben gar keine Hupen, oder?"

"Doch, doch. Aber das Hupen ist bei uns eher ein Zeichen von Aggression. Man hupt normalerweise nur, wenn es wirklich gefährlich wird."

"Dann ist es doch zu spät. Ihr fahrt nur mit den Augen, stimmt's? Bei uns ist es auf den Straßen viel sicherer: Wir fahren mit den Augen und mit den Ohren."

In Nürnberg steigt Kali wieder aus. Er scheint froh zu sein, dass er die letzten eineinhalb Stunden überlebt hat.



Dringender Appell an die anderen Verkehrsteilnehmer: Hupt vor dem Überholen!

Kalis Gestalt verschwimmt im dichten Morgennebel, der schwer auf dem National Highway No. 5 liegt. Ich wache aus meiner Tagträumerei wieder auf. Radele weiter, weiter hinauf Richtung Kalkutta. Hier kommen mir all die entgegen, die Kali zwischen München und Nürnberg vermisst hat: die Ochsenkarren, Motorrikschas, besonders häufig Mopeds, auch PKW und Lastwagen. Sie fahren solange auf der falschen Spur, bis es einen Durchlass auf die andere Seite gibt oder bis sie über einen Seitenweg den Highway verlassen. Trotz der unzähligen "Geisterfahrer" (niemand würde in Indien auf die Idee kommen, sie als solche zu bezeichnen) ist dieser Highway nicht nur der schnellste, sondern auch der sicherste Weg nach Nordosten - weil er breit ist und meistens auch noch einen Seitenstreifen hat.

Hühnertransport

 

Die 2000 Kilometer zwischen Bangalore und Kalkutta sitze ich Tag für Tag fast pausenlos im Sattel. Morgens kurz nach Sonnenaufgang gegen 7 Uhr starten, den ganzen Tag radeln, kurz vor Sonnenuntergang gegen 17 Uhr nach einer günstigen Herberge Ausschau halten. Das Zelten vermeide ich in Indien, um mich wenigstens abends aus der Öffentlichkeit zurückziehen zu können.

Die Zeit drängt. In Kalkutta möchte ich an einem Wochenanfang ankommen, um ein Myanmar-Visum einzuholen, und dann gleich wieder durchstarten in den äußersten Nordosten Indiens, zur Grenze nach Myanmar. Dort überquert Mitte Februar ein Konvoi mit ausländischen Fahrzeugen die eigentlich geschlossene Grenze zwischen Moreh und Tamu. Dieser Konvoi ist auf absehbare Zeit die einzige Chance, Indien überland zu verlassen. Während der 18 Tage zwischen Bangalore und Kalkutta genehmige ich mir nur vier Tage Pause, am Meer bei Gopalpur und am Chilika-See, dem größten Salzwassersee Asiens.

Die Zahl der Mopedfahrer, die auf der Straße abbremsen, um mich zu interviewen, ist in den letzten Wochen zurückgegangen, aber es sind immer noch 20 - 30 pro Tag. Manche stellen eine Frage nach der anderen und pumpen und pressen regelrecht, wenn ihnen keine weitere mehr einfällt. Hier ein Ausschnitt aus dem Fragenkatalog:

What is your country? Deutschland
Where do you go? nach Kolkata
Your name? Peetah
Your age? auch hier mache ich meistens die wahre Angabe
One person only? Soll heißen: Bist du allein unterwegs? Manchmal sage ich "ja", meistens behaupte ich aber, dass ein paar Kilometer hinter mir noch zwei Freunde folgen. Eine alte Angewohnheit, es muss ja nicht jeder wissen, dass ich ein einfach zu beraubendes Opfer bin - auch wenn diesbezüglich in Indien kaum Gefahr besteht.
What is the purpose of your travel? Ich möchte die Welt sehen.
How many kilometers from Germany to India? auf meiner Route bis hierher ungefähr 18.000
Your profession? Manchmal: Computer Engineer, manchmal: Journalist. Journalist vor allem dann, wenn plausibel sein soll, wie ich die Reise finanziere. Dass es in Wirklichkeit hauptsächlich Ersparnisse sind, wäre für die meisten nicht nachvollziehbar.
Are you going for a Guinness Book world record? Diese Frage wurde auffälligerweise seit Pakistan oft gestellt. Der Gedanke an einen Rekordversuch scheint mir ein englisches Erbe zu sein. - Klare Antwort: nein.
How long are you travelling? zehn Monate bis hierher
Are you married? Auch hier eine situationsbedingte Antwort: Normalerweise bin ich verheiratet, weil alles andere bei meinem Alter ( > 30 Jahre ) irritierend wäre. Die längere Abwesenheit von der Familie wird akzeptiert. Nur gebildeteren Menschen erkläre ich, dass eine solch lange Reise kaum möglich wäre, wenn ich eine intakte Familie hätte.
How many kilometers can you do per day? Hier in Indien normalerweise 120 bis 150 Kilometer, gelegentlich auch 170 bis 180 km. Im Sommer in Kasachstan einmal 222 km.
German Gouvernment sponsoring you? Oops, nee. Aber das ist eine gute Idee! Muss ich mich an Frau Dr. Merkel wenden oder an den Bundespräsidenten?
Does the Indian Gouvernment sponsor you? noch viel weniger
How did you cross the sea? Diese Frage stellen interessanterweise oft auch gut gebildete Menschen. Ich erkläre dann, wie es über Russland und Zentralasien ganz ohne eine Seereise geht. Aber selbst wenn man "unten herum" nach Indien reist (Balkan, Türkei, Iran, Pakistan), ist ja nur der Bosporus zu überqueren.
Is your bicycle from India? Da ich von Deutschland gestartet bin, habe ich mich dann doch für einen deutschen Hersteller entschieden  :-)
This bicycle costs more than 50 Dollars? Ja, aber den genauen Preis weiß ich nicht. Die Firma hat mir das Rad zum Testen gegeben. Nach der Reise muss ich es zurückgeben, damit es auf Schwachstellen hin analysiert werden kann. - Ich wäre ein Depp, wenn ich den wirklichen Preis nennen würde (ca. 3.500 Euro); für so viel Geld kauft ein Inder 70 Fahrräder.

 

Am Meer bei Gopalpur

Eines Nachmittags, ca. 40 Kilometer vor Ongole, kommt Viktor auf seinem Moped von hinten angeschlichen. Er macht irgendwie alles viel geschickter als die anderen, grüßt freundlich, bombardiert mich nicht gleich mit etlichen Fragen, sondern erzählt auch von sich selbst. Er ist 32 Jahre alt, Personalchef und Pressesprecher eines Krankenhauses in Ongole.

"Wenn du Viktor heißt - bist du dann Christ?"

"Ja, es gibt hier viele Christen. Ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung sind christlich." Es seien kanadische Baptisten gewesen, die im Südosten Indiens missioniert haben. Viktors Familie ist streng gläubig, sein Vater und sein Bruder sind Pfarrer.

Viktor fragt, an wie vielen Tagen in der Woche es in Deutschland Gottesdienste gebe. "Normalerweise nur sonntags", sage ich. - "Und gehst du während deiner Reise auch in die Kirche?" - "Im Baltikum und in Russland war ich oft in Kirchen. Und auch in Goa", antworte ich billig, aber so leicht lässt sich Viktor nicht in die Irre führen. Er meint nicht Besichtigungen, sondern Gottesdienstbesuche. Da muss ich passen. Viktor schaut etwas traurig. Er ermahnt mich, regelmäßig am Gottesdienst teilzunehmen. Eine Weisung, die ich gelegentlich schon in Afrika bekommen habe. Ganz amüsant: Die Missionierten remissionieren jetzt die Nachkommen der Missionare. Denn viele dieser Nachkommen haben den Glauben inzwischen verloren - nicht zuletzt, weil es ihnen zu gut geht. "Not lehrt Beten", heißt es - der Umkehrschluss gilt vermutlich auch.

Wir haben ein langes Gespräch, zwei Stunden fährt Viktor mit seinem Moped auf dem NH5 neben mir her, bis er sich am Ortseingang von Ongole verabschiedet.

 

Mutter Teresa ist in der Tat zu Hause - ihr Grab liegt im Inneren des Hauptsitzes der "Missionaries of Charity" in Kalkutta.

 

 

 

 

 

In Kalkutta führt mein erster Weg zum Myanmar-Konsulat. Für die Ausstellung des Visums wird überraschenderweise die Vorlage eines Flugtickets nach Myanmar verlangt, aber das lässt sich wegdiskutieren ("Ich weiß noch nicht, ob ich von Kolkata oder von Chennai fliege..."). Im Übrigen ist die Dame, die den Pass und die Formulare annimmt, ausgesprochen freundlich und entgegenkommend. Dass ich überland einreisen will, möchte ich trotzdem lieber nicht erwähnen. Die Westgrenze Myanmars ist immer noch sehr sensibel.

 

Mutter Teresas Grab

Am Tag meiner Weiterreise berichtet die Zeitung wieder über einen Fall von Gruppenvergewaltigung. Was man für ein überstrapaziertes Thema in den mitteleuropäischen Medien halten könnte, ist tatsächlich nahezu täglich präsent in Indien. In Ratangarh, im Westen des Landes, sagte ein älterer Arzt während einer längeren Unterhaltung: "Die zwei größten Probleme in Indien sind Korruption und Vergewaltigung." Es passiert ständig, und nicht nur "irgendwo in Indien", sondern gleich nebenan. Und dieser Fall aus Westbengalen ist geradezu unglaublich: Weil eine 20jährige mit einem jungen Mann aus dem Nachbardorf ein Verhältnis hat, bestraft der Dorfrat sie mit einer Gruppenvergewaltigung, an der mindestens 13 Männer beteiligt sind, darunter der Vorsitzende des Dorfrates selbst.

 

Der Nordosten Indiens zieht sich nördlich und östlich um Bangladesch herum. Mit dem restlichen Teil Indiens ist der Nordosten nur über einen 20 Kilometer dünnen Durchlass zwischen Nepal und Bangladesch verbunden. Wollte man die indische Landkarte auf Sperrholz malen und dann aussägen, würde der Nordosten an dieser Engstelle wegbrechen.

Darjeeling und der Blick auf den 8386 Meter hohen Kanchenjunga

Kurz hinter der Bruchstelle zweigt in Siliguri die Straße nach Darjeeling ab. Nachdem vor einigen Tagen per eMail die Nachricht eingetroffen ist, dass sich die Ausreise mit dem Konvoi um eine Woche verzögert, bleibt mir die Zeit für diesen Abstecher in die Berge. Und schneller als erwartet verlasse ich Indien. Nicht real, aber in der Wahrnehmung. Die alte Straße, die zusammen mit einer Schmalspurbahn hinauf nach Darjeeling verläuft, führt durch einsamen Wald, kleine Dörfer mit fröhlich-freundlichen, zurückhaltenden Menschen - und durch himmlische Ruhe. Die meisten Bewohner stammen aus Nepal und Tibet, einige auch aus Bhutan. Zusammen mit Bangladesch und Indien sind sich hier fünf Länder ganz nahe.

Darjeeling liegt 2100 Meter über dem Meer. An den umliegenden Hängen wird der berühmte Tee angebaut. Anfang des Jahres ist es recht kühl, nachts liegen die Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Wenn morgens der Dunst noch nicht aufgestiegen ist, kann man im Norden den Kanchenjunga sehen, den mit 8386 Metern dritthöchsten Berg der Erde. Tenzing Norgay, zusammen mit dem Neuseeländer Edmund Hillary Erstbesteiger des Mount Everest, hat die meiste Zeit seines Lebens in Darjeeling gewohnt. Der gebürtige Tibeter lebte einige Jahre in Nepal, bevor er als Jugendlicher nach Nordindien kam. Nach der Everest-Besteigung 1953 wurde er vom indischen Premierminister mit der Gründung des "Himalayan Mountaineering Institute" in Darjeeling beauftragt, dessen Direktor er in den letzten Jahren bis zu seinem Tod 1986 war.

Von Darjeeling kehre ich zurück ins Tiefland von Westbengalen, durchquere dann den Bundesstaat Assam, der ebenfalls für seinen guten Tee bekannt ist. Auffallend viel Militär ist hier unterwegs, es gibt zahlreiche Checkpoints auf den Straßen. Am ersten Abend in Assam bringt mich die Polizei in einem nichtöffentlichen Guesthouse unter (das ich ganz für mich allein habe) und eskortiert mich für das Abendessen zu einer Imbissstube.

In Assam und den anderen Nordost-Bundesstaaten gibt es separatistische Bestrebungen vieler zersplitterter Gruppen. So möchte zum Beispiel der Nordwesten Assams als Bodoland unabhängig sein. Auch die Gegend um Darjeeling übrigens strebte lange Zeit eine Unabhängigkeit von Westbengalen an - als "Gorkhaland".

Im Osten Assams wieder die gleiche Situation wie beim Aufstieg nach Darjeeling: die gefühlte Ausreise aus Indien. Die Gesichter sind hier südostasiatisch, sie erinnern an Thailand und Myanmar. Die Zahl der "Inder", wie die Menschen aus dem Westen hier genannt werden, nimmt auf dem weiteren Weg durch Nagaland und Manipur ab.

Inzwischen bin ich in Imphal angekommen, der Hauptstadt von Manipur. Bis zur Myanmar-Grenze bei Moreh sind es nur noch 100 Kilometer, die ich morgen unter die Räder nehmen werde. Übermorgen kommt der Konvoi in Moreh an. Heike und Julian laden dort mich und das Fahrrad in ihren alten Benz-Bus ein. Wenn alles gut geht, werden wir am Morgen darauf Indien "Ade!" sagen.

 
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Maks

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