Rückkehr der FARC

Und ein Treffen mit Pawel in Kolumbien

18.6.2015 - San Augustin (45226 km)

So oft wie in Kolumbien bin ich noch nirgendwo auf mein Ein-Gang-Fahrrad angesprochen worden. "No cambio?" fragen jeden Tag Männer auf der Straße, wenn ich das Rad irgendwo abstelle. Kolumbien ist eine Radsportnation, die Leute kennen sich aus mit hochwertigen Fahrrädern. Aber sie kennen nur Kettenschaltungen. Dass das Getriebe in der Nabe versteckt sein kann, finden sie seltsam.

Kettenwechsel in Kolumbien. Relativ leicht lässt sich die neue Rohloff-Kette von der alten unterscheiden. Letztere hat 20.000 Kilometer von Wuhan (China) bis nach San Augustin durchgehalten und sich dabei um nur ein Kettenglied gelängt. Das Geheimnis: nicht zu oft reinigen.

Die Kolumbianer sind neugierig, und zugleich sind sie sehr kommunikativ. Natürlich wollen sie gern wissen, woher denn ich komme und wohin die Reise führen soll. Auch diese Fragen gibt es jeden Tag mehrmals. Gelegentlich muss ich an die vier Monate in Indien denken, wo die extreme Neugier mich extrem genervt hat. Warum habe ich denn hier keine Probleme?

Zum einen liegt es an der Häufigkeit der "Interviews", in Kolumbien sind es eben nur einige pro Tag. Und vor allem sind die Kolumbianer nach unseren europäischen Maßstäben ausgesprochen höflich. Sie grüßen immer mit einem "Guten Morgen", "Guten Nachmittag" oder "Guten Abend", bevor sie ein Gespräch beginnen. Sie sind in ihrem allgemeinen Verhalten der europäischen Kultur viel näher als die Inder. In Indien kamen die Fragen im Kasernenton, harsch und ohne den Hauch einer einleitenden Begrüßung - und eben nicht nur einige Male am Tag, sondern 30 bis 100 Mal.

Im Dorf Ovejas, 14 Kilometer vor dem Abzweig nach Magangué, fragen einmal mehr einige Männer nach meinen Reiseplänen. "Ich fahre über Bucaramanga nach Bogotá", antworte ich. Das führt, wie meistens, erst einmal zu Erstaunen. Bogotá - das dauert mit dem Fahrrad doch noch Tage!? Gegen dieses Vorhaben sind meine 25.000 Kilometer von Deutschland nach Shanghai überhaupt nix. Asien ist viel zu weit weg, einfach nicht greifbar. Die 20.000 Kilometer von Kanada bis nach Kolumbien geben schon etwas mehr her. Aber auch das ist noch ziemlich abstrakt. Doch nach Bogotá ... nach Bogotááh! - das ist ja der Hammer, das ist unglaublich!

"Da bist du hier allerdings auf dem falschen Weg", sagt einer von ihnen. "Wenn du nach Bucaramanga willst, musst du zurück und über Plato fahren."

"Aber ich möchte ja auch nach Mompos. Da muss ich doch noch etwas weiter nach Süden fahren und dann links nach Magangué abbiegen, oder?"

"Magangué? Magangué ist viel zu gefährlich." Der Mann, der das sagt, zieht eine imaginäre Pistole und droht mir damit. "Außerdem ist die Straße nach Mompos gesperrt."

Der Weg nach Mompos

Ich kenne solche Situationen aus Afrika. Da warnt oft ein Volksstamm eindringlich vor dem nächsten, und wenn du dann bei den anderen ankommst, wundern sich die, wie du denn die Reise bis hierher lebend überstehen konntest - schließlich warst du ja in einer äußerst gefährlichen Gegend unterwegs. Das ist ganz lustig: Die Afrikaner fürchten sich vor ihrem eigenen Land mehr als der Besucher. Aber ist das denn hier in Kolumbien auch so?

Beim Abschied erzähle ich den Männern, dass ich nicht zurückfahren mag, sondern dann eben über Medellin statt über Bucaramanga nach Bogotá fahren werde. Ich will ja nicht unhöflich sein. Tatsächlich habe ich aber die ursprünglichen Pläne noch nicht ganz aufgeben.

Kurz vor der Abzweigung begegnet mir ein Franzose, der gerade aus Magangué kommt. Keine Probleme, sagt er, er habe keine Gefahr bemerkt. - Ob die Straße nach Mompos gesperrt sei, frage ich noch. - "Da gibt es an einigen Stellen Bauarbeiten, aber eine Fahrspur ist immer offen."

Mompos

Innenhof eines öffentlichen Gebäudes in Mompos

Jenseits von Magangué setzt eine Fähre über den breiten Rio Magdalena über. Auf der anderen Seite befindet man sich auf einer großen, langgezogenen Insel, die vom Haupt- und von einem Nebenarm des Flusses gebildet wird. Sand- und Erdpisten führen durch weite Feuchtgebiete und vorbei an Rinderfarmen. Cowboys sind auf der Piste unterwegs, nur wenige motorisierte Fahrzeuge, dafür aber viele Fuhrwerke. Tiere werden in ganz Kolumbien noch häufig als Zugtiere genutzt. Es herrscht eine himmlische Ruhe, die ganze Gegend wirkt verschlafen - was hätte ich verpasst, wenn ich auf die Männer in Ovejas gehört hätte!

Mompos liegt am Nebenarm des Rio Magdalena, eine Kleinstadt, die Mitte des 16. Jahrhunderts von den spanischen Konquistadoren gegründet wurde. Der Hafen von Mompos war ein großer Umschlagplatz an diesem wichtigen Transportweg, auch mit Sklaven wurde hier gehandelt. Doch dann verlagerte sich der Verkehr auf den Hauptarm des Flusses, und das Städtchen versank im Dämmerschlaf, weiterhin geschmückt mit den Kirchen und den malerischen Häusern aus seiner Blütezeit.

Die Iglesia Santa Barbara in Mompos

Mompos schläft nun im Tiefland vor sich hin, nur wenige Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Die hohe Luftfeuchtigkeit steigert die lähmende Wirkung der Hitze. Doch auf dem weiteren Weg nach Süden gewinne ich endlich an Höhe, bis bei Bucaramanga die 1000-Meter-Grenze erreicht ist. Mit einem Mal sind Mattigkeit und Erschöpfungszustände der vergangenen zwei Monate verschwunden - ich hatte allen Ernstes schon befürchtet, mir einen Herzfehler angeradelt zu haben (so was gibt's). Nun plötzlich bin ich wieder stark und komme gut voran, obwohl es hinter Bucaramanga ständig auf und ab geht. 100 Kilometer vor Bogotá noch ein Pass um die 3100 Meter, dann hinab zur kolumbianischen Hauptstadt, die in 2600 Metern Höhe liegt und damit die dritthöchste Hauptstadt Amerikas ist (hinter Quito/Ecuador und Sucre/Bolivien).

Kuppel in der unterirdischen Catedral de Sal

In der Catedral de Sal

Eine halbe Tagesreise vor Bogotá quartiere ich mich in Zipaquirá ein, um mir dort die berühmte Catedral de Sal anzuschauen, eine Kirche, die in die Tiefe eines Salzberges gebaut wurde. Am Ortsausgang von Zipaquirá dann am nächsten Tag eine Überraschung: Es gibt einen Radweg neben der Straße, einen perfekten Asphaltstreifen, der durch Randsteine von den Fahrspuren für die Autos abgetrennt ist. Nach gut drei Kilometern wechselt dieser Radweg aus nicht ersichtlichem Grund auf die linke Straßenseite - man überquert die vier Autospuren auf einer aufwendig gebauten Brücke für Fußgänger und Radfahrer. Und nach gerade einmal drei weiteren Kilometern wechselt der Radweg über eine weitere Brücke wieder auf die rechte Seite. Was soll das? An Platz mangelte es auf der rechten Seite nicht.

Auf dem Weg durch Kolumbien sind mir solche Brücken schon öfter aufgefallen, meistens Fußgängerbrücken in kleinen Städtchen über wenig befahrene Straßen. Niemand - wirklich niemand - benutzte diese Brücken. Jeder überquerte ungefährdet die Straße auf direktem Wege. Irgendwie drängte sich der Verdacht auf, dass ein enger Verwandter des Präsidenten eine Brückenbaufirma hat. Das ist natürlich eine gewagte Unterstellung und auch nicht ganz ernst gemeint. Aber solche Gedanken macht man sich schon angesichts dieser vielen unsinnigen Brücken. Von ihnen profitiert nur einer: der Hersteller.

Geh' bloß nicht über diese lebensgefährliche Straße - nimm lieber die Brücke...

Noch so eine aufwenige Brücke, die niemand benutzt.

Die Fahrt durch Bogotá wird übel. Schon in den Außenbezirken fahren die Laster und vor allem die Busse wie wild, sie überholen mich oft mit nur einer Handbreit Abstand. Außerdem rußen sie dich voll, pusten ungefilterte große schwarze Wolken aus, so dass du unwillkürlich die Luft anhältst. Und dann diese Radwege! Holperpisten, vereinnahmt auch noch von den vielen Fußgängern, die dich zur Slalomfahrt zwingen. Ein Parcours, der alle 50 Meter durch Seitenstraßen unterbrochen ist, an denen die einschwenkenden Autofahrer Vorfahrt vor dem Radfahrer haben. Die Absätze zwischen Radweg und Straße sind teilweise so hoch wie bei uns in Deutschland eine Bordsteinkante. Ich weiche auf die Straße aus, weil ich auf dem Radweg nur im Schritttempo vorankomme. Dann weiche ich wieder auf den Radweg aus, weil die Straße zu gefährlich ist. Und das geht 30 Kilometer so, bis ich endlich das Hostel im Zentrum der Stadt erreicht habe. Selten habe ich eine derart nervenaufreibende Großstadtdurchquerung gehabt.

Bei dem Gedanken, dass ich in ein paar Tagen diese 30 Kilometer auch wieder zurückfahren muss, vergeht mir schon jetzt die Freude am Aufenthalt in Bogotá.

Ein schier endloser Teppich aus Häusern: Bogotá.

Bereits aus Panama habe ich eine Mail an meinen Siemens-Kollegen Pawel geschrieben. Er ist mit der Kolumbianerin Lucila verheiratet und macht daher gelegentlich in Südamerika Urlaub. Da mochte es ja - durch einen ganz, ganz großen Zufall - sein, dass wir uns hier treffen können. Aber die Mail blieb unbeantwortet, und es kam auch keine Abwesenheitsmeldung. Die Nachfrage bei Kollegen, ob Pawel überhaupt noch bei Siemens arbeitet, schob ich eine Weile lang auf.

Im Museo del Oro

 

Drei Wochen später kam eine Nachricht von Pawel, die wie eine Antwort aussah. Doch es sollte sich herausstellen, dass eher Gedankenübertragung stattgefunden hatte. Meine Mail hatte ihn nämlich knapp verpasst, da er seit vier Wochen mit seiner Familie in Elternzeit ist. Zwei Monate davon nutzen sie nun für einen Urlaub in Mittel- und Südamerika. Derzeit sind sie in Mexiko unterwegs, kommen aber in wenigen Tagen nach Kolumbien. Daher wollte Pawel anfragen, ob ich nicht vielleicht gerade in der Nähe bin...

Die Tage bis zu unserem Treffen bei Lucilas Mutter in Chia, nördlich von Bogotá, verbringe ich vor allem mit Museumsbesuchen. Herausragend sind das Museo del Oro, das Goldmuseum, und das Museo Botero, in dem neben Bildern und Skulpturen des großen kolumbianischen Künstlers (er stellt Menschen typischerweise stark überernährt dar) auch Werke von Picasso und anderen europäischen Malern ausgestellt sind.

Wiedersehen in Kolumbien: Pawel mit der sechs Monate jungen Luisa auf dem Arm, Lucila und ihre Mutter Carmen. Luisas Schwester Clara spricht mit ihren vier Jahren Deutsch, Spanisch und Polnisch (Pawel stammt aus Polen).

Die Bürgermeister von Bogotá sind für ihre Progressivität bekannt. Eine der guten Ideen ist die "Ciclovia": Jeden Sonntag werden 120 Straßenkilometer in Bogota für den motorisierten Verkehr gesperrt, damit sich Radfahrer dort austoben können. Und zufällig ist es ein Sonntag, an dem ich in Chia angemeldet bin und die Stadt wieder in Richtung Norden verlasse. So komme ich zumindest im Zentrum gut und sicher voran. In den Außenbezirken herrschen Staus, so dicht, dass man sich selbst mit dem Fahrrad nicht zwischen den Autos hindurchschlängeln kann.

Spezialität in Bogitá und Umgebung: Kakao mit Käse.

 

Als ich bei Lucilas Familie ankomme, sind gerade einige Nachbarn zu Besuch. Wieder gibt es viele neugierige Fragen zu meiner Reise und zu den weiteren Plänen. Was den Weg durch den Süden Kolumbiens betrifft, gibt es nur zwei Routen: die östliche über Neiva und die westliche über Cali. Ich möchte von den anderen gern wissen, welches die interessantere Alternative ist, landschaftlich und bezüglich der Sehenswürdigkeiten. Doch unvermittelt kommt ein ganz anderer Aspekt auf: das Thema der Sicherheit.

Lucilas Mutter Carmen serviert Tamales. In der Bananenblatttasche verstecken sich Kichererbsen, Reis, Hühnchen- und Schweinefleisch.

Vor einigen Tagen, so erfahre ich hier, hat die Guerilla-Organisation FARC ihren einseitigen Waffenstillstand aufgekündigt. Unmittelbar danach sind die Rebellen im Süden des Landes wieder aktiv geworden und haben Tanklaster und Öl-Pipelines attackiert; bei einem Angriff auf eine Polizeistation kamen drei Polizisten ums Leben. Die Angriffe konzentrieren sich auf die Provinzen Huila und Putumayo, damit scheidet nun also die Route durch den Osten aus. Ich werde auf der größeren Straße über Cali nach Ecuador fahren müssen.

Lucilas Mutter, Carmen Rodriguez, wohnt in den Bergen oberhalb von Chia rund 3000 Meter hoch in einer kleinen Finca mit großem Garten und einigen Kühen drum herum. Eine idyllische Umgebung, in der man die hektische Acht-Millionen-Hauptstadt schnell vergisst. Wir unternehmen einige Ausflüge, wandern an den Berghängen und werden von Carmen gut bekocht. Ich wage mich dort oben dann doch noch an eine Spezialität aus dieser Gegend heran, an Chocolate con queso - Kakao mit Käse.

Die Tage auf der Finca haben mir Zeit gegeben, über die Lage im Süden des Landes nachzudenken. Nach den neuen Informationen über die FARC-Aktivität wollte ich eigentlich wirklich den Weg über Cali nehmen. Aber die abgelegene Ostroute reizt mich, weil sie viel ruhiger zu sein scheint. Außerdem liegt San Augustin auf dieser Strecke, eine Ausgrabungsstätte mit mysteriösen Steinfiguren aus vorspanischer Zeit.

Für den Fall, dass mir vor Ort von der Weiterfahrt nach Süden abgeraten wird, bietet die Ostroute an mehreren Stellen die Möglichkeit, über Bergstraßen auf die Westroute zu wechseln. Ich werde mich also langsam vortasten, mit offenen Ohren und Augen.

Auf dem Weg nach San Augustin nimmt die Militärpräsenz zu. Immer wieder gibt es Check Points mit Schutzhütten aus Sandsäcken neben der Straße, an einigen dieser Straßensperren stehen Schützenpanzer. Aber die Soldaten sind bei guter Laune. Sie grüßen freundlich, heben anerkennend die Hand, signalisieren: alles in Ordnung. In San Augustin frage ich bei der Polizei nach der Lage weiter im Süden, Richtung Mocoa. "Gefährlich", ist die Antwort. "Aber wenn Sie die Hauptstraße nach Mocoa nicht verlassen, sind Sie sicher."

Schützenpanzer an einem Check Point im Süden Kolumbiens

Das ist beruhigend. Normalerweise sind Behörden eher übervorsichtig, wenn es um die Sicherheit von Touristen geht. Solange mich an den Check Points niemand aufhält, dürfte die Lage wirklich relativ gut sein. Ich bin fast sicher, dass es keine Probleme geben wird. Und trotzdem wäre ich lieber schon 300 Kilometer weiter, an der Grenze zu Ecuador.

 
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