Reich!

(Kirgistan / Usbekistan)

26.8.2013 - Samarkand / Usbekistan (10762 km)

"Wir sind nicht reich", sagt Tulkun Khodjaev, der Vater von Sardor, als ich in den Hof seines Hauses eintrete. Als müsste er sich dafür entschuldigen, dass sein Sohn mich von der Straße weg zu seiner Familie eingeladen hat. Was meint er wohl mit "nicht reich"? Vielleicht befürchtet er, dass ein Europäer mit den einfachen sanitären Einrichtungen Probleme haben könnte.

"Das da drüben ist Usbekistan."

Vor einer Stunde erst bin ich nach Usbekistan eingereist und nun im Städtchen Uchkurgan angekommen. Eigentlich war mein Tagesziel das 40 Kilometer entfernte Namangan, aber auf der Suche nach dem Grenzübergang war ich zum alten Grenzposten gefahren. Keinen Kilometer von Uchkurgan entfernt stand ich vor einem tiefen, aber nur wenige Meter breiten Graben, über den einmal eine Brücke führte. Ein Kirgise kam aus seinem Haus heraus und bestätigte es:

"Ja, das da drüben ist Usbekistan." - "Aber der neue Grenzübergang liegt 21 Kilometer von hier entfernt."

Auf der usbekischen Seite hatte sich unterdessen ein Soldat im Tarnanzug und mit umgehängtem Gewehr aus seiner sandfarbenen Umgebung herausgelöst. Er stand uns jetzt gegenüber - wir hätten ihm beinahe die Hand reichen können. Wir sprachen mit ihm, und es war keine Überraschung, dass er mich nicht einlud, einfach zu ihm herüberzukommen. Auch den Kirgisen hätte er nicht eingeladen. So etwas wie "Kleinen Grenzverkehr" gibt es hier nicht - die beiden Nachbarn sind sich nicht grün. Im Zweifelsfall wird schnell geschossen. Vor zwei Wochen erst gab es zwei Tote bei einem Grenzkonflikt. - Wann immer ich erzählte, dass ich nach Usbekistan fahre, rümpfte man in Kirgisien die Nase.

Der Toktogul-See in Kirgistan.

Auf dem Weg zurück zur Fernstraße fuhr ich irgendwo auf der schmalen, buckligen Asphaltpiste den 10.000-sten Kilometer dieser Reise. Erstaunlicherweise ist es gelungen, bis hierher auch wirklich jeden Meter aus eigener Kraft zurücklegen. Auf früheren Reisen gab es immer irgendein Hindernis nach ein paar Tausend Kilometern - die Straße von Gibraltar auf dem Weg nach Westafrika 1988; die Bosporusbrücke, über die mich die türkische Polizei 1985 nicht radeln ließ; 2001 meisterte ich diese Brücke, aber dann waren es visumtechnische Gründe, die mich nach 5000 geradelten Kilometern zwangen, Israel vom jordanischen Aqaba aus mit der Fähre zu umgehen.

Während dieser Reise habe ich mich nach neuneinhalbtausend Kilometern damit abgefunden, dass die Serie ein Ende haben würde. Auf dem Weg von Bishkek nach Usbekistan markiert die Nelles-Landkarte in den kirgisischen Bergen einen Tunnel in 2550 Metern Höhe. Wegen Erstickungsgefahr sei er für Fußgänger und Radfahrer gesperrt, hatte ich mehrfach gehört. Man würde mit dem Rad auf einen Laster zwangsverladen. Da der Tunnel tatsächlich aber 3100 Meter hoch liegt, musste ich am Tag des Aufstiegs nicht 1900, sondern 2400 Höhenmeter absolvieren, kam erst am späten Nachmittag oben an und beschloss, noch vor dem Tunnel das Zelt aufzubauen.

Mit Swetlana und Manas verbrachte ich den Abend am Tunnel in gut 3000 Metern Höhe. Sie leben nur in den Sommermonaten hier oben.

Bis zum nächsten Morgen hatte sich eine Lastwagenschlange von mehreren Hundert Metern vor dem Tunnel gebildet. Noch bevor die Laster einfahren durften, mogelte ich mich an ihnen und den Wächtern vorbei und konnte so auch diese knapp drei Kilometer durch den Tunnel mit dem Fahrrad zurücklegen.

In den kirgisischen Bergen.

Der neue Grenzposten liegt direkt hinter einem kleinen, unscheinbaren Abzweig von der Hauptstraße nach Osh, bis zum letzten Moment verdeckt durch Büsche und Bäume am Straßenrand. Er besteht nur aus einigen Bauwagen. Drei Männer sitzen im Schatten und spielen Karten. Alles macht eher den Eindruck, als sei ich auf einen Waldarbeitertrupp gestoßen. Sie könnten noch heute Abend hier alles zusammenpacken und abziehen - morgen schon würde niemand mehr erahnen, dass es hier einen Übergang zwischen den beiden Ländern gab. Der nächste Übergang liegt rund 200 Kilometer entfernt.

Bei den Kirgisen ist nach fünf Minuten alles erledigt. Sie wünschen mir viel Glück in Usbekistan. Nach einem Kilometer Niemandsland stehe ich mitten in den Feldern vor einem großen, verschlossenen hellblauen Tor. Rechts und links davon hohe weiße Mauern. Das Tor öffnet sich, eine Hand streckt sich grüßend entgegen - sie gehört einem Kollegen des bewaffneten Usbeken am alten Grenzübergang.

Die Einreiseprozedur dauert ungefähr eine Stunde, aber die Beamten sind überaus korrekt und sehr gut ausgebildet. Neben Russisch sprechen sie als zweite Fremdsprache bestes Englisch. Während mein Reisepass in den Hinterzimmern unterwegs ist, fragt mich die Zöllnerin bezüglich der Lebensumstände in Deutschland aus.

Welche Berufsgruppen gut, welche weniger gut bezahlt sind, möchte sie wissen. Und wie es denn mit Zollbeamten aussieht. Sie ist empört, dass sie in Deutschland weniger verdienen würde als ein Lehrer, schließlich habe doch auch sie einen Hochschulabschluss. - Ach so, daher auch das exzellente Englisch. Ich korrigiere mich und gebe ihr jetzt ein Lehrergehalt. - Natürlich sollen nun konkrete Zahlen kommen: Wie viele Dollars wären denn das im Monat? - Sicherheitshalber drittele ich die Wirklichkeit; außerdem gibt es vorab eine Lektion "Lebenshaltungskosten in Deutschland", die ihre Schockwirkung nicht verfehlt.

Ach ja, und dann habe sie ja aus dem Fernsehen erfahren, dass es in Deutschland einen nationalen Bierfeiertag gibt. - Oh! Ich bin überrascht! Der ist dann erst in den letzten Monaten eingeführt worden. Bei meiner Abreise gab es diesen Feiertag noch nicht.

Der Pass kommt zurück, jetzt folgt die Kontrolle meines Gepäcks. Der Kollege meiner wissensdurstigen Gesprächspartnerin bittet höflich, aber bestimmt um Verständnis dafür, dass er sich in meinen Packtaschen umsehen muss. Er schaut sich etwa die Hälfte an und lässt mich dann wieder frei - durch das westliche hellblaue Tor darf ich hinaus nach Usbekistan.

Im Hof der Familie Khodjaev. Auf solchem Untergrund hat ein selbststehendes Zelt seine Vorteile gegenüber einem Tunnelzelt.

Als Sardor mich kurz vor Einbruch der Dunkelheit zusammen mit Freunden in Uchkurgan anhält und zu seiner Familie einlädt, lehne ich zunächst ab. Manchmal sind solche Einladungen höfliche Gesten, die nicht unbedingt ernstgemeint sind. Aber Sardor bleibt hartnäckig.

Das Dreigenerationenhaus umgibt ebenerdig mit vielen Zimmern einen großen Garten, in dem Obst und Gemüse wachsen. Einige der Zimmer sind von Sardor, seiner Frau und dem einjährigen Sohn bewohnt. Im Hof kann ich zum Trocknen das Zelt aufbauen, das in der letzten Nacht einen Gewitterguss abbekommen hat. Übernachten solle ich aber in einem der Zimmer, ermahnt mich Mukhsin, einer von Sardors Freunden. Das dürfe ich nicht ablehnen. Ebenso wenig  natürlich das angebotene Abendessen. Als das Zelt steht, kommt die Mutter mit einer Wasserkanne, Seife, einer Schale und einem Handtuch herbei, damit ich mir die Hände waschen kann.

Mit verschränkten Beinen hocken wir Männer dann auf Sitzkissen vor einem flachen Tisch. Der Boden des Raumes ist vollständig mit Teppichen ausgelegt, aber weitere Möbel gibt es nicht. Auf dem Tisch sind Maiskolben, Tomaten, Obst und Mandeln aus dem Garten verteilt, dazu gibt es Fladenrot, außerdem süßes Konfekt aus Russland. Die Mutter bringt Tee, in dem wir beigefarbene, großkristalline Zuckerblöcke versenken.

Tulkun

Von Maiskolben, Brot und Obst bin ich bereits satt, da erscheint die Mutter wieder im Zimmer. Jetzt erst kommt die Hauptmahlzeit: Plov, ein Riesenhügel Reis mit Fleischstückchen und Hammelfett, außerdem steht noch eine Schale mit Reissuppe vor mir. "Iss, iss!" befiehlt der Hausherr. Ein bisschen geht noch, aber dann kapituliere ich.

Dass das Fett vom Hammel ist, verstehe ich übrigens nur, weil der Vater doch tatsächlich ein altes Russisch-Deutsch-Wörterbuch ausgekramt hat. Er möchte es mir sogar schenken, aber es übersetzt für mich in der falschen Richtung. Darüber bin ich froh, denn ich hätte es gar nicht annehmen wollen - er ist einfach viel zu großzügig.

Tulkun ist Kardiologe, er schwärmt vom berühmten Christiaan Barnard. Tulkuns Hobbys sind die Weltraumfahrt und Geographie. Er hat die ganze Weltkarte im Kopf und scheint jeden Kosmonauten beim Namen zu kennen, so auch die Deutschen Sigmund Jähn und Ulf Merbold.

Die aufmerksamen Gastgeber merken, dass ich langsam müde werde. Erfreulicherweise kann ich doch im Zelt schlafen, ohne sie zu beleidigen. Das ist mir sehr recht, denn auch abends um elf Uhr ist es noch 30 Grad warm. Im Zelt lasse ich beide Eingänge offen, so dass ein wenig Luft durchziehen kann.

Sardor und einer seiner Freunde.

Als ich am Morgen aus dem Zelt krabbele, steht die Mutter gleich wieder mit Seife, Wasserkanne und Handtuch für eine Katzenwäsche bereit. Natürlich lassen sie mich nicht ohne ein Frühstück losziehen. Und weil sie gesehen haben, dass meine Landkarte veraltet ist, zeichnet Tulkun noch schnell eine aktuellere mit der Route bis Tashkent auf ein leeres Blatt Papier.

Zum Abschied kommen sie alle hinaus auf die Straße: Sardor, seine Frau und der kleine Sohn, Sardors Mutter und der Vater stehen vor dem Haus und winken mir fröhlich nach.

Was meinte Tulkun nur mit: "Wir sind nicht reich"?

Diese tiefgreifende Herzlichkeit! Wenn SIE nicht reich sind - wer ist es dann?

 
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Maks

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