Die Krone von Thailand

oder: Beim Chianarzt in Chiang Mai (Thailand / Laos / Vietnam)

19.4.2014 - Hanoi / Vietnam (23088 km)

Das Reisgericht war vollvegetarisch, pikant gewürzt, groß in der Portion und bei einem Preis von 50 Cent durchaus erschwinglich. Teuer sind jetzt nur die Folgekosten -- wegen des Steins im Reis.

Es gab ein hässliches Geräusch, als der Stein zwischen die Backenzähne geriet. Danach wanderte die Zunge rechts oben durch ein tiefes Loch. Das Missgeschick passierte in einem Straßenrestaurant in Indien. Ich liebäugelte mit einem Zahnarztbesuch in Kalkutta, schob ihn dann aber doch noch auf bis nach Thailand.

Dr. Kullapop Suttiat setzt die Betäubungsspritze an. Mir ist heiß - trotz der Klimaanlage. Der Zahn ist mit einer Füllung nicht mehr zu retten, dazu fehlt zu viel. Es muss eine Krone drauf. Heute wird geschliffen, und es werden die Abdrücke gemacht. Für das Aufsetzen der Krone gibt es einen weiteren Termin. Also noch ein paar Tage Verlängerung in Chiang Mai.

Die zweitgrößte Stadt Thailands, im Norden gelegen, stand ohnehin auf dem Reiseplan. Hier wohnt seit vielen Jahren mein Freund Frank. Wir hatten uns im Sommer 2003 in Südthailand kennengelernt und den Kontakt nie ganz verloren. Während ich ein Jahr später wieder nach Deutschland zurückkehrte, hat Frank sich in Thailand niedergelassen.

Was ihm hier besonders gefällt, ist die allgemeine Gelassenheit. Es gibt viel weniger Regulierungen als in Europa, das Leben ist unkompliziert. Zugleich ist das Land mit seiner guten Infrastruktur recht modern. Ich hatte fast den Eindruck, nach Amerika einzureisen, als ich aus Myanmar kam: großzügige Straßen in bester Qualität, jedes zweite Auto ein moderner Pickup, auch in den Kleinstädten gibt es Supermärkte, allen voran "seven-eleven". Früher hatten die Filialen der Kette von 7 bis 23 Uhr geöffnet, inzwischen läuft der Verkauf rund um die Uhr.

Mit Frank beim Koreaner in Chiang Mai

Günstig ist das Leben in Thailand auch - sofern man das Geld aus Deutschland mitbringt. Allerdings verdient Frank sein Geld hier, als selbstständiger Lehrer zu ortsüblichen Konditionen. Damit kann er keine großen Sprünge machen. Er lebt bescheiden in einer Einzimmerwohnung, hat einen Kühlschrank, einen Fernseher, eine Stereoanlage, und unten in der Tiefgarage steht sein Moped. Viel mehr besitzt er nicht. Aber er hat hier viele Freunde, sowohl Thailänder als auch Falangs, wie die Ausländer hier genannt werden. Frank macht einen sehr zufriedenen Eindruck.

Beim Gang durch Chiang Mai hat man das Gefühl, durch ein Freiluft-Seniorenheim zu marschieren, das von Europäern besiedelt ist. Auffallend viele ältere Menschen aus westlichen Ländern sind auf der Straße unterwegs, hauptsächlich Männer. Viele von ihnen verbringen das Winterhalbjahr hier und den Sommer in Europa. Und viele der angejahrten Herren haben in Chiang Mai ein junges Thai-Mädchen an ihrer Seite.

Meine zweite Einreise nach China steht nun bevor. Auf dem Konsulat in Chiang Mai wird mir bestätigt, was auch in den einschlägigen Internet-Foren zu lesen ist: Auf den chinesischen Konsulaten in Südostasien bekommt man seit Mitte letzten Jahres nur noch Visa für 30 Tage Aufenthalt ausgestellt. Auch hier in Thailand hat der Konsul keinen Handlungsspielraum.
Also läuft der Antrag wieder - wie vor sechs Monaten für die Reise durch den Westen Chinas - mit dem Zweitpass in Deutschland (vielen Dank für die Unterstützung an Martin, Sonja, Oliver, Uwe!). Doch selbst dort streicht mir das Konsulat die erbetenen 90 Tage auf 60 zusammen. Der Zeitplan durch China wird somit sehr straff. Ich werde nun nicht von Laos aus einreisen, sondern von Vietnam - damit starte ich weiter östlich und spare ein paar Hundert Radelkilometer in China ein.

Den Pass schickt die Berliner Visumagentur an die deutsche Botschaft in Vientiane, in der Hauptstadt von Laos. Dort kann ich ihn in zehn Tagen abholen, außerdem werde ich in Vientiane das Visum für Vietnam beantragen. Frank hat mir eine Route nach Laos vorgeschlagen, die auf den letzten 200 Kilometern idyllisch am Mekong verläuft.

Die Bedingungen auf dem Weg bis zum Mekong sind bei der brütenden Hitze kurz vor der Regenzeit allerdings brutal. Die Route kreuzt mehrere Höhenzüge; es sind zwar nur Mittelgebirge, aber in der prallen Sonne ist es am Berg, wo der Fahrtwind fehlt, kaum auszuhalten. Zudem ist die Jahreszeit wegen der hohen Luftverschmutzung ungünstig zum Radeln - überall werden derzeit die Wälder und Felder abgefackelt. Der Feinstaub in der Luft (der in Chiang Mai doch tatsächlich gemessen und auf elektronischen Tafeln veröffentlicht wird) liegt bei 200 μg/m³. Das ist ein Wert, bei dem die Kinder in Thailands Schulen schon längst keinen Sport mehr treiben dürfen - sie dürfen nicht einmal mehr hinaus auf den Schulhof.

Sitzender Buddha im historischen Sukhothai

Wenn ich eine Pause mache und das Rad in der Sonne steht, wird das Display des Fahrrad-Computers dunkel. Die 53 Grad, die es anzeigen will, heben sich kaum mehr vom Hintergrund ab. Wenn ich weiterfahre, wird die Anzeige durch den Fahrtwind wieder etwas heller. Dann nähert sich die Temperatur für den Kilometerzähler und für mich wieder der Schattentemperatur, die bei etwa 38 Grad liegt. Ja, das Radeln in der Ebene ist okay. Aber an den Bergen wirst du gegart, da wirst du durchgebraten, im eigenen Saft. Gelegentlich wird mir schummerig. Manchmal schiebe ich das Rad, weil das Schieben bei 10% Steigung weniger Schweiß kostet, manchmal stemme ich das Rad, weil es bei 20% einfach nicht anders geht.

20 Kilometer westlich von Chiang Khan stößt die kleine Straße schließlich auf den berühmten Fluss, auf den majestätischen Mekong. Er ist erdbraun und hier gut einen Kilometer breit. Auf der anderen Seite liegt Laos.

Am Abend ruft Christoph Deumling vom Bayerischen Rundfunk in Chiang Khan an. Wir machen eine Aufzeichnung, die morgen früh ausgestrahlt wird, exakt ein Jahr nach dem Tourstart vor dem Erlanger Rathaus. "75 Prozent aller Deutschen würden gern eine längere Auszeit vom Beruf nehmen", leitet Deumling das Interview ein. Im weiteren Verlauf möchte er wissen, wie es denn eigentlich mit der Selbstbestimmtheit während einer solchen Reise aussieht. Eine sehr berechtigte Frage. Auf diesem ersten Abschnitt steckte ich zeitlich in einem sehr engen Korsett. Immer wieder war ich gehetzt durch begrenzte Visalaufzeiten, war häufig im Stress, die jeweils nächsten Visa rechtzeitig an Land zu ziehen. Diese Probleme wird es in Nord-, Mittel- und Südamerika in dem Ausmaß nicht mehr geben.

Der Blick von meiner kleinen Hütte über den Mekong nach Laos

Der weitere Weg am Südufer des Mekong entlang ist malerisch - wie Frank es versprochen hatte. Links der breite, träge fließende Fluss, rechts steigen tropisch bewaldete Hügel auf. Lange, schmale Holzboote queren den Fluss, wo es auf beiden Seiten Dörfer gibt. Die Gegend ist abgelegen, die Straßen sind leer, die Ortschaften dösen in der schwülen Hitze vor sich hin. Einen Tag verbringe ich noch in einem Dorf, in man sich in kleine Bambushütten direkt am Mekong einmieten kann. Ich verbummele matt die Zeit, wie ich sie selten irgendwo verbummelt habe.

Am nächsten Tag kann ich mittags vom Städtchen Si Chiang Mai über den Mekong hinweg nach Vientiane schauen. Der Fluss ist hier etwa eineinhalb Kilometer breit. Besonders einladend wirkt die laotische Hauptstadt aus dieser Perspektive nicht. Das Ufer ist ausbetoniert, einige hochragende Gebäude sind durch den Dunst zu erkennen, alles wirkt aus der Entfernung steril.

Überall in Thailand und in Laos sind Geisterhäuschen aufgestellt. Wo immer Land bebaut wird - sei es mit einem Gebäude, sei es mit Reis - stört man die dort wohnenden Geister. In diesen Häuschen finden sie ihre Ruhe. Für Essen und Getränke wird gesorgt, zum Trinken gern auch ein Stohhalm beigegeben.

Würde hier eine Fähre verkehren, wäre ich in ein paar Minuten drüben. Aber wie schon auf den letzten 150 Kilometern gibt es auch hier keinen offiziellen Grenzübergang. Der nächste liegt 40 Kilometer flussabwärts bei der großen Friendship Bridge nahe Nong Khai. Auf der laotischen Seite geht dann es wieder gut 20 Kilometer zurück, bis man am anderen Ufer steht, dort drüben, in Vientiane.

Die Ausreiseformalitäten in Thailand sind so unkompliziert wie das Land an sich. Und trotz der Zweirad-Verbotsschilder lässt man mich über die Friendship Bridge nach Laos radeln. Direkt hinter der Brücke plötzlich eine Ampelkreuzung. Das ist sehr eigenartig. Noch vor der offiziellen Einreise verläuft eine Querstraße? Dann fällt mir auf, dass sich die Fahrspuren eben unmerklich getrennt haben. Hier, an der Ampel, kreuzen sie sich. Sehr elegant, wie man in Laos zwischen Links- und Rechtsverkehr wechselt.

Vientiane ist nach wie vor eine der entspanntesten Hauptstädte der Welt. Die Stadt hat ein angenehm provinzielles Flair, auch wenn sie immerhin 240.000 Einwohner zählt. Dabei sind aber vermutlich auch alle Reisbauern in der äußersten Peripherie mit eingerechnet. Das Zentrum ist sehr übersichtlich, man hat schnell das Gefühl, hier zuhause zu sein.

Patuxai - Vientianes Arc de Triomphe

Nur leider hat die Stadtverwaltung inzwischen den Uferbereich kaputtgestaltet. Vor elf Jahren zogen sich entlang des Flusses unzählige kleine, gemütliche Bambuskneipen dahin. Ich kam jeden Tag und saß da und las in Büchern, schaute auf den Mekong und las weiter in den Briefen, die mir Familie und Freunde auf echtem Papier geschrieben und postlagernd nach Vientiane geschickt hatten. Und jetzt? Wo damals die Bambushütten standen, fahren heute Autos, protzige SUVs, auf einer Straße mit Leitplanken und Highway-Charakter. Obwohl gerade hier am wenigsten Verkehr herrscht, hat man das Ufer mit dieser affigen Straße zugepflastert.

Es war eine andere Zeit, selbst wenn gerade mal ein Jahrzehnt vergangen ist. Auch Vientiane sucht das, was in den aufstrebenden Ländern als Fortschritt angesehen wird. Damit muss man rechnen, wenn man an einen Ort zurückkehrt, den man mit schönen Erinnerungen verknüpft: dass er sich verändert hat. Und subjektiv verändert er sich meist zum Negativen.

Nachdem das Vietnamvisum ausgestellt ist, fahre ich weiter Richtung Osten. Durch Dörfer, in denen süße, aufgeregt hüpfende und tanzende Kinder "Sabaidee! sabaidee!" schreien, sobald sie mich entdecken: Hallo! Hallo! -- "Sabaidee!" grüße ich laut zurück und weiß gar nicht, wohin ich bei den vielen Rufen aus allen Richtungen zuerst schauen soll.

Hier kann man Geisterhäuser kaufen

 

Inzwischen ist es ein wenig "kühler" geworden, nachdem erste heftige Regenfälle eingesetzt haben. Die schwüle Hitze mit über 30 Grad sorgt aber weiterhin dafür, dass T-Shirt und Hose tagsüber ständig klitschnass vom Schweiß sind.

In Ban Lao zweigt die Straße zur vietnamesischen Grenze ab. Sie ist wenig befahren; wenn aber mal ein Lastwagen überholt, hat er meist schwere Baumstämme geladen. Hochwertiges Holz ist ein wichtiges Exportgut für Laos. Wie in so vielen anderen Teilen der Welt ist die Verlockung groß, mehr Holz zu verkaufen, als nachwachsen kann. Große Mengen dieses Rohstoffes gehen auch nach China, das beim Ausbau der laotischen Infrastruktur und beim Aufbau von Wasserkraftwerken unterstützt und sich in Naturalien bezahlen lässt. Strom aus Wasserkraft dürfte dafür der Exportschlager der Zukunft werden, denn Laos wird das Vielfache des eigenen Bedarfs erzeugen.

In Grenznähe entdecke ich einige Relikte aus dem jahrelangen Flächenbombardement der US-Amerikaner. An einer Tankstelle liegt ein abgeworfener Flugzeugtank, in Lak Sao sind es zwei große Bombenkörper, die gerade als Pfosten einer Hofeinfahrt einbetoniert wurden.

Aus Furcht vor der Ausbreitung des Kommunismus in Südostasien begannen die USA unter Präsident Johnson 1964, Laos mit Bomben zu überschütten. Es war ein nie erklärter Krieg. Am schwersten betroffen waren der Norden des Landes und der zentrale Osten an der Grenze zu Vietnam. Hier wollten die US-Amerikaner vor allem den Ho-Chi-Minh-Pfad treffen, über den der kommunistische Norden Vietnams die Kämpfer im Süden versorgte. Diese Versorgungslinie führte in weiten Teilen über laotisches Gebiet.

Ein UXO als Pfosten für die Hofeinfahrt

 

Bis 1973 flogen die US-Amerikaner über 500.000 Einsätze, bei denen zwei Millionen Tonnen Bomben abgeworfen worden sein sollen. Das wäre bei der damaligen Bevölkerungszahl eine Tonne Sprengstoff pro Einwohner. Andere Schätzungen sagen, dass sogar die zweieinhalbfache Menge abgeworfen wurde. Etwa ein Drittel der Bomben und "bombies" - tennisballgroße Sprengsätze - explodierte nicht und liegt als UXO (unexploded ordnance) zu großen Teilen noch heute im Erdreich des Landes. 40 Jahre nach dem "Secret War" sterben immer noch Menschen, weil sie bei der Feldarbeit auf ein UXO stoßen. Gelegentlich lösen auch Kochfeuer auf dem Erdboden Explosionen aus. Die Räumung der Sprengkörper geht zwar stetig voran, aber es sind so viele, dass die Beseitigung bei der augenblicklichen Geschwindigkeit noch einhundert Jahre dauern wird.

Das zehnmal dichter besiedelte Vietnam bildet einen herben Kontrast zum verschlafenen Laos. Als ich aus den Bergen, die die Grenze zwischen den beiden Ländern bilden, ins Tiefland gleite, reihe ich mich ein in einen nicht abreißenden Strom von Radlern und Mopedfahrern. Wir schwimmen nach Norden, nach Norden, nach Hanoi.

Hanoi

Wer von Europa direkt in die vietnamesische Hauptstadt einfliegt, wird den Straßenverkehr vermutlich als chaotisch empfinden. Mich kann das Gewusel nicht schrecken - nach dem viermonatigen Training in Indien. Aber die Manöver der vietnamesischen Mopedfahrer sehen in der Tat mitunter haarsträubend aus. Die Entscheidung, ob man das Auto, das sich beim Abbiegen in den Weg gestellt hat, rechts oder links umkurvt, fällt oft erst im allerletzten Moment. Mopeds ihrerseits biegen üblicherweise nicht in einem Bogen ab, sondern sie fahren diagonal durch den dichten Gegenverkehr hindurch und dann in die Seitenstraße hinein. Fußgänger kreuzen die Mopedwolken, indem sie siegessicher und scheinbar todesmutig einfach mal losgehen. Die meisten von all denen auf der Straße kommen am Abend trotzdem lebendig zuhause an.

Ein paar Tage werde ich in diesem lebhaften Hanoi mit seinen gemütlichen, kleinen grünen Altstadtgassen noch verbringen. Dann geht die Reise weiter nach China, wo die Schlussetappe durch Asien beginnt.

 
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Maks

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