Alles anders

25.3.2017 - Karamürsel (77871 km)

Tel Aviv am Montag kurz nach Sonnenaufgang. Ich schleiche mich mit meinen Packtaschen aus dem Zehnbettzimmer der Jugendherberge, in der ich gestern trotz Altersbegrenzung (18-45 Jahre) aufgenommen worden bin - nach einer kurzen Diskussion. Die Sorge der Betreiber war weniger, dass ich in meinem hohen Alter jungen Mädchen nachstellen würde, sondern dass ich mich über die laute Musik in den Abendstunden beschweren könnte. Beschwert hätte ich mich dann tatsächlich fast - als die Musik nämlich schon um elf Uhr abends abgeschaltet wurde.

Als ich nun das Fahrrad beladen habe, ist es 6:40 Uhr. Auf den Straßen der größten Stadt Israels schwillt der Verkehr bereits an. Montag ist hier eigentlich schon der Dienstag. Sonntag ist der erste Tag der jüdischen Woche, denn Ruhe herrscht am Samstag - dem bekannten Sabbat. Junge Rucksackreisende im Hostel erzählten, dass sie ihre Pausentage grundsätzlich auf Freitag und Samstag legen, weil ab Freitagnachmittag keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren. Nur Taxis, und die sind sehr teuer. So wie Israel ganz allgemein erschreckend teuer ist.

Einfahrt mit dem Berufsverkehr in die Hafenstadt Ashdod.

Der Hafen von Tel Aviv liegt 35 Kilometer südlich in der Stadt Ashdod. Dort hole ich bei der Agentur "Allalouf" die Papiere ab, die den Einlass in den Frachtschiffhafen und den Zugang zur Grande Europa ermöglichen: das Ticket und das sogenannte "Passenger Manifest". Doch die Papiere allein reichen nicht aus, wie sich beim strengen Security Check am Hafeneingang herausstellt. Die Sicherheitsleute rufen den Agenten herbei, damit der mich zunächst zur Immigration und dann direkt bis an das Schiff geleitet. Er zieht mir seine Warnweste über, fährt mit dem Mercedes voraus, ich düse mit dem Rad durch den Hafen hinter ihm her.

Man sollte meinen, dass sich die Zahl der Schiffsverbindungen über das östliche Mittelmeer erhöht hat, seit der Weg durch Syrien versperrt ist. Stattdessen aber haben sich die Möglichkeiten reduziert. Von Ägypten aus geht gar nichts mehr (Ein- und Ausschiffungsverbot), in Israel wurde die letzte reguläre Fähre, die Verbindung nach Zypern, im letzten Herbst eingestellt. Es blieb mir allein die Frachtschiffflotte der italienischen Reederei Grimaldi. Die Grande Europa wird mich weit von der geplanten Route durch die Türkei abbringen. Wir fahren nach Salerno, das südlich von Neapel auf der Westseite des italienischen Stiefels liegt. Eine dreitägige Schiffsreise durch das halbe Mittelmeer. Von Salerno muss ich dann einen langen Weg zurück nach Osten radeln, um in Istanbuls Stadtteil Beşiktaş das nächste Erlanger Grußschreiben auszuliefern.

Mit dem weiten Umweg durch das halbe Mittelmeer wird die Reiseroute nach Istanbul nun so aussehen.

Über die Laderampe schiebe ich das Rad in den dicken Bauch des gewaltigen Schiffes. Mal etwas anderes. Kein Containerschiff wie bei den beiden Ozeanüberquerungen, sondern ein Autofrachter. Die Grande Europa transportiert Fahrzeuge aus Westeuropa ins östliche Mittelmeer. Hunderte PKW sind auf den Etagendecks geparkt und verzurrt - dies ist ein schwimmendes Parkhaus. Um zu meiner Kabine zu kommen, muss ich eines der dunklen Decks durchqueren und dabei den Kopf einziehen, denn die meisten Etagen sind auf PKW-Höhe optimiert.

Die Grande Europa, ein schwimmendes Parkhaus

Nachdem ich mich in meiner Kabine eingerichtet habe, wandere ich über das Oberdeck des Schiffes. Auch hier steht ein Auto am anderen. Hinter der Windschutzscheibe jedes Wagens liegt ein Zettel mit den Daten und dem Zielhafen des Fahrzeuges. Zum Teil sind es Kleinwagen, zum Teil aufwendig getunte Protzautos. Als ich weiter durch die Reihen schlendere, mache ich plötzlich eine überraschende Entdeckung. - Ich muss kurz nachdenken. - Aber es stimmt schon: Entweder haben sie ein paar Autos vergessen auszuladen, oder ...

Ich werde gleich runtergehen und Francesco fragen, den Zweiten Offizier. Vielleicht kommt jetzt ja doch noch alles anders.

Gebrauchtwagen aus Großbritannien auf dem Deck der Grande Europa

Gerade einmal zehn Tage habe ich in Israel verbracht. Die Einreise aus Ägypten war ein Schritt in eine andere Welt. Geografisch gesehen ist die Grenze bei Taba/Eilat eine Grenze in Asien. Aber eigentlich ist es ein direkter Übergang von Afrika nach Europa. Alles ist anders in Israel. Die Straßen sind sauber, kein Plastikmüll fliegt umher, wie er inzwischen selbst ärmere Länder wie Äthiopien überflutet. Glitzernde Geschäfte und Bars in Eilat, die Gebäude sind schick verputzt, nirgendwo bröckelt die Fassade. Frauen laufen (vergleichsweise) nackig am Strand umher, Paare gehen Hand in Hand. Und: Niemand grüßt hier zurück. Die Leute schauen mich ernst an, nicht lächelnd. In den letzten zehn Monaten habe ich praktisch jeden am Straßenrand gegrüßt - das muss ich mir jetzt schleunigst abgewöhnen.

Ich weiß nicht viel über dieses Land. Weil ich aber wusste, dass Israel sehr teuer ist, habe ich die Einreise noch um ein paar Tage hinausgezögert und es mir im ägyptischen Dahab am Roten Meer gutgehen lassen. Hier in Israel werde ich meine Zeit fast ausschließlich auf der Straße verbringen und auf klassisches Sightseeing verzichten.

Meereshöhe - auf dem Weg zum Toten Meer.

Der Weg führt zunächst hinauf durch den östlichen Teil der Wüste Negev. Auf der Landkarte sind relativ viele Ortschaften eingezeichnet, so habe ich nur vier Liter Wasser bei mir. Doch als ich nachtanken will, stehe ich bei einem Ort vor einem schweren Eisentor. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Es ist der Kibbuz Yahel, der sich so unerwartet wehrhaft zeigt. Eingeschüchtert drehe ich ab.

Mit dem Einbruch der Dunkelheit erreiche ich eine Raststätte, die Teil eines offeneren Kibbuz' ist. Ich kaufe im Laden ein und frage, ob ich hier mein Zelt aufstellen darf. Statt zu antworten, telefoniert die Dame hinter dem Tresen. Sie darf das offenbar nicht selbst entscheiden. Nach dam Telefonat kommt die für mich doch etwas unerwartete Antwort: "Nein." Anscheinend fürchten sie um ihre Sicherheit.

Das Tote Meer. Drüben liegt Jordanien.

Am nächsten Tag geht es bergab. Die Straße erreicht Meereshöhe und fällt weiter. Am Toten Meer verläuft sie 400 Meter unter dem Meeresspiegel der Ozeane. In der Schule habe ich noch gelernt, dass das Tote Meer als tiefster Punkt der Erde ca. 395 Meter unter Null liegt. Inzwischen ist die 400er-Marke längst unterschritten. Derzeit sinkt der Wasserspiegel jedes Jahr um einen ganzen Meter. Wenn sich das so fortsetzt, wird das Tote Meer in 70 Jahren absolut tot sein. Ein teuer zu konstruierender Kanal vom Roten Meer könnte das Tote aber noch retten. Es gibt bereits Planungen.

Drüben, am Ostufer, liegt Jordanien. Nur ein paar Kilometer entfernt. Während ich nordwärts Richtung En Bokek radele, fliegt alle fünf Minuten ein Sportflugzeug mit lautem Motorengebrumm über meinen Kopf hinweg. Es bewegt sich aber nicht etwa entlang dieser Straße auf und ab, sondern kreuzt sie immer wieder direkt über mir. Es fliegt also Kreise, die sich genau in meinem Tempo nach Norden verlagern. Die beobachten mich doch! Bevor das Flugzeug zum sechsten Mal zurückkehrt, bleibe ich stehen, um es genau betrachten zu können. Und mein Verdacht bestätigt sich: Das Ding brummt zwar wie ein Sportflugzeug, hat auch die Form und die entsprechende Größe, doch es hat keine Kanzel - es ist eine gespenstische Drohne.

Nördlich der Oase Ein Gedi führt die Straße in die Palästinensischen Gebiete hinein. Man passiert einen kleinen Grenzposten, an dem aber nur in umgekehrter Richtung kontrolliert wird. Zunächst ist kein Unterschied bemerkbar, doch vor Jericho stellen sich dem Reisenden riesige rote Schilder entgegen: Einfahrt für israelische Staatsbürger lebensgefährlich! Davon abgesehen per israelischem Gesetz verboten.

Ich übernachte in einer einfachen Herberge in Jericho und fühle mich in dem arabischen Umfeld nach Ägypten zurückversetzt. Jericho ist eine der ältesten Städte unserer Erde, seit 10.000 Jahren ununterbrochen bewohnt.

Bei der Ausreise aus den Palästinensischen Gebieten wird am nächsten Tag mein Pass von Israelis kontrolliert. Bald danach verläuft die Straße wieder direkt an der jordanischen Grenze entlang, die hier durch den dünnen Jordan-Fluss gebildet wird. Der doppelte Grenzzaun erinnert an die frühere deutsch-deutsche Grenze. Auch Syrien ist nicht weit. In Tiberias am See Genezareth ("Tiberias-See" im Arabischen) bin ich nur 100 km entfernt von Damaskus. Zwei Tagesmärsche von hier versinkt ein Land im Chaos.

Der Grenzzaun zwischen Israel und Jordanien

Über Haifa und Tel Aviv fahre ich zum Hafen in Ashdod. Auf dem Oberdeck der Grande Europa dann diese irritierende Entdeckung: "Destination Port: Limassol" steht auf den Ausfuhrzetteln mehrerer Autos. Limassol liegt in Zypern. Aber da kommt Ihr mit Eurem Schiff doch gerade erst her! Habt Ihr vergessen, die Autos auszuladen?

Francesco, der Zweite Offizier, bestätigt meinen Verdacht, meine Hoffnung: Sie haben die Route durch das östliche Mittelmeer abgeändert. Statt Zypern-Ägypten-Israel-Italien fahren sie dieses Mal Israel-Zypern-Ägypten-Italien. Das ist ja großartig! Dann bleibt mir dieser verrückte Umweg über Italien erspart. Ich will gleich morgen wieder aussteigen. Francesco wird den Kapitän fragen, ob das so einfach geht.

Beim Mittagessen begegne ich dem Kapitän. Ein verschmitzter älterer Mann aus Italien. Wie ich denn dann weiterfahren will, möchte er wissen. - Na, vom Süden Zyperns in den Norden und dann mit der Fähre nach Taşucu in die Türkei. - "Die Türken werden Sie als Deutschen fressen!" warnt er mich grinsend. "Ich bin schneller", erwidere ich im Spaß. Er lacht. Aber er muss noch die Erlaubnis der Reederei einholen, dass ich wirklich in Limassol abspringen darf.

Zusammen mit Francesco verfasse ich ein Schreiben, mit dem ich Grimaldi von allen Verpflichtungen entbinde. Die Reederei wird mir auch keinen einzigen Euro zurückzahlen. Es wird der teuerste Schiffsreisetag meines Lebens. Dafür hätte ich glatt einen Tag in der Antarktis bekommen.

My first LIDL

Im Süden Zyperns bin ich in der Euro-Zone unterwegs. Zum ersten Mal seit Jahren sehe ich wieder Euroscheine. Wie winzig sie sind, vor allem die Fünfer. Der Südteil Zyperns fühlt sich an wie Griechenland. Allerdings fährt man auf der linken Straßenseite, die Insel war britische Kronkolonie bis zur Unabhängigkeit 1960. 14 Jahre später wurde bei einem Putsch Präsident Makarios gestürzt. Die Putschisten wollten danach eine Angliederung Zyperns an Griechenland, woraufhin die Türkei den vorwiegend türkisch besiedelten Norden der Insel besetzte. Seit 40 Jahren also ist Zypern geteilt.

Kathedrale mit angeflanschtem Minarett in Famagusta im türkischen Teil Zyperns.

So sehe ich kurz vor Famagusta noch einmal eine Grenze, die aussieht wie damals die deutsch-deutsche. Immerhin ist sie inzwischen durchlässig, es gibt sechs Übergänge in Zypern, an denen man zwischen dem griechischen und dem türkischen Teil wechseln kann.

Und drüben, auf der türkischen Seite, fressen sie mich nicht. Das gilt dann auch für die Südküste der Türkei, die ich nach fünfstündiger Fährfahrt von Girne nach Taşucu erreiche. Erdoğan und seine kalkulierte Rhetorik sind das eine, die Menschen auf der Straße das andere. Zumindest bis jetzt hat der Hass sie noch nicht erreicht. Weder in den Touristenorten, in denen der Deutsche üblicherweise sein Geld abgeben soll, noch in der Provinz, wo er als Gast weiterhin eingeladen wird.

Pamukkale in der Westtürkei: kein Schnee, sondern blendender Kalk.

Nach der überraschenden Routenänderung der Grande Europa fahre ich nun also doch einen langen Weg durch die Türkei zu unserer Partnergemeinde am Bosporus. Nicht von Italien werde ich kommen, sondern von Osten, von der "richtigen" Seite. Die Stadtverwaltung in Beşiktaş bemüht sich gerade um eine Sondergenehmigung, die es mir erlaubt, den Bosporus mit dem Rad auf einer der Brücken zu überqueren. Wenn das klappt, kehre ich in ein paar Tagen rollend nach Europa zurück.

Durch den glücklichen Umstand, dass die Grande Europa die Häfen im östlichen Mittelmeer diesmal in einer anderen Reihefolge anläuft, führt mein Weg nun doch durch Asien nach Istanbul.

 
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