(Indien)
24.1.2014 - Kalkutta / Indien (18511 km)
Auf dem Weg in den Süden Indiens ist es bald tropisch geworden. Schon in Rajasthan sah ich die ersten Palmen und Bananenstauden, auf dem weiteren Weg nach Süden Reis- und Zuckerrohrfelder. Am Wegrand viele kleine Verkaufsstände, in denen der Saft aus dem Zuckerrohr gequetscht wird, mit Hand- oder kleinen Motorpressen. Zweimal sind es Ochsen, die im Kreis laufen, um eine Presse anzutreiben. Ungefähr so, als würde man ein Mofa mit dem Motor einer Diesellok ausstatten.
Die Kleinbauern, die mit ihren Ochsenkarren die Ernte im Schritttempo zum Großhändler transportieren, scheinen nah am Existenzminimum zu leben. Immer wieder kommt es zu Streiks wegen zu niedriger Abnahmepreise für Zuckerrohr. Wer genügend Geld für einen Traktor hat, bringt die fünffache Menge in fünffacher Geschwindigkeit zum Abnehmer. Auch auf den Feldern konkurrieren Muskel- und Maschinenkraft. In Rajasthan waren es Kamele, hier sind es Rinder, die auf den kleineren Feldern vor den Pflug gespannt werden. Die reicheren Nachbarn arbeiten mit Traktoren, auch im Schlamm der Reisfelder - da werden Schaufelrad-ähnliche Konstruktionen von außen an die Räder aufgeschraubt.
Mit dem Abstecher nach Goa führt meine Route zum ersten Mal seit dem Baltikum wieder an ein Weltmeer, hier an den Indischen Ozean. Und dieses Mal passen die Temperaturen. Die verschneiten Ostseestrände luden Ende April noch nicht so sehr zum Baden ein.
Goa - der Strand von Vagator
Goa ist erstaunlich ruhig. Natürlich gibt es unzählige Touristen, aber sie verteilen sich auf viele Strände. Und eben weil es hier so viele ausländische Besucher gibt, ist man als Europäer kein bunter Hund, darf in den kleinen Straßen wandeln, ohne von Blicken und Rufen verfolgt zu werden. Händler freilich versuchen, ihre T-Shirts, Badetücher, Souvenirs an den Mann zu bringen, doch es reicht ein einziges höfliches "danke!", und sie lehnen sich wieder zurück. Ich genieße diese Ruhe, aber auch die touristische Infrastruktur, habe am Strand von Vagator eine bescheidene Hütte, kann aus dem Bett heraus direkt vor den Bartresen rollen. Esse Pommes Frites und gerne auch die fantastisch gute Rindfleischpizza, die ein Restaurant nebenan serviert - Urlaub von Hektik und Stress des realen Indien.
"Enjoy this happy place", verabschiedet sich ein Lieferant aus Mumbai, den ich gerade am Eingangstor zur Siemens AG in Goa kennengelernt habe. Ganz früh am Morgen habe ich vor meiner Strandhütte alles Gepäck aufgeladen, um stilecht und mit vollständiger Ausrüstung bei den indischen Siemens-Kollegen 40 Kilometer südlich von Vagator vorzufahren. Neben allen Erlanger Partnerstädten besuche ich auf dieser Reise um den Globus auch internationale Standorte meines langjährigen Arbeitgebers.
Mit "happy place" meint der Lieferant aber nicht die Firma, sondern natürlich Goa. Auch er scheint in diesem kleinsten indischen Bundesstaat ein Paradies mit glückseligen Menschen zu sehen. Alles ist hier gelassener, easygoing, die Menschen wissen zu leben, Bars sind auch abseits der Strände Bars - keine finsteren, vermüllten Hinterräume, in denen neben dem Geruch von Moder auch der der Illegalität hängt.
"Goa" und "Elektronik-Industrie" passen im Kopf irgendwie nicht so recht zusammen. Wie soll man sich das vorstellen? Software-Entwickler liegen in Hängematten zwischen Palmen, mit dem Notebook auf dem Schoß und einer Kokosnuss in der Hand?
Rituraj Khare, der Chef des Entwickler-Teams, führt mich durch die Räume von Siemens Goa. Computer und Testaufbauten in den Laboren, Bestückungsautomaten für Platinen in einer großen Halle - keine einzige Hängematte. Würden draußen nicht ein paar Palmen in den Himmel ragen, könnte man meinen, in einem Büro in Nürnberg zu sitzen.
Siemens in Goa
Einige Tage später halte ich hier den ersten Vortrag über die aktuelle Reise. Ein Themenschwerpunkt: Wie motiviert man sich bei einem so lang angelegten Projekt immer wieder neu? Wo gibt es Motivationsprobleme, wo liegen die Gefahren, das Fernziel aus den Augen zu verlieren? Warum gibt man auch bei Gegensturm in der endlosen Einöde Kasachstans nicht auf? Das alles sind Fragen, die ich vorab erst einmal für mich selbst klären muss; in der Vorbereitung dieser Dia-Show muss ich tief in mich hineinblicken.
Die beiden letzten Tage in Goa verbringe ich bei einem deutschen Arbeitskollegen und seiner Familie. Jan, Karen und ihre vierjährige Tochter Eva lebten in Berlin, bevor sie vor zehn Monaten nach Goa umgezogen sind. Der Vertrag läuft über drei Jahre. Eva besucht einen einheimischen Kindergarten, in dem sie Englisch spricht. Zu Hause spricht sie Deutsch. Sie kann gut trennen. Nur ganz gelegentlich rutscht ihr auch zu Hause mal ein englisches Wort heraus.
Die drei genießen ebenfalls das verhältnismäßig kühle Klima um die Jahreswende, 25 Grad bei minder hoher Luftfeuchtigkeit. Die Klimaanlage in der Wohnung bleibt ausgeschaltet, nur die Deckenventilatoren drehen sich. Wenn der Monsun im Juni kommt, wird es unerträglich. Die Kühlkosten sind über das Jahr gesehen etwa so hoch wie die Heizkosten in Deutschland, sagt Karen. Wegen einer kurzen Abwesenheit während der Monsunzeit war die Wohnung zwei Tage lang nicht gekühlt - danach schwebte ein dünner Schimmelteppich über dem Boden und auch auf Spiegeln und Scheiben hatten sich bereits Schimmelkolonien gebildet.
Surreale Welt von Hampi im Süden Indiens
Ein paar Wochen später präsentiere ich meinen Vortrag noch einmal bei den indischen Kolleginnen und Kollegen in Bangalore. Obwohl nicht ein einziger von ihnen je auf die Idee kommen würde, selbst eine lange Reise mit dem Fahrrad zu machen, drängen sich über 300 Zuschauer in den Saal. Am Ende gibt es Standing Ovation und, wie schon in Goa, gemeinsame Fotos und zahllose Gratulationen. Diese herzliche Reaktion ist wirklich berührend.
Empfang in Bangalore
Herzliche Reaktionen nach meinem Bericht in Bangalore
Das neue Jahr ist angebrochen. Noch immer ist nicht geklärt, wie ich durch Myanmar komme. Die Überlandreise von Indien Richtung Norden oder Osten ist nahezu unmöglich. Man kann zwar nach Nepal oder Bhutan weiterfahren, aber weiter nördlich liegt Tibet, das seit 2008 nicht mehr individuell bereist werden kann (nur extrem teure geführte Touren sind inzwischen wieder möglich - auch Bhutan kann man übrigens nur organisiert und teuer besuchen). Im Osten versperrt Myanmar den Weg. Myanmars Grenzen zu Thailand haben sich inzwischen geöffnet, aber die Grenzübergänge zu Indien und zu Bangladesh sind für Ausländer dicht.
Vor zehn Jahren ist es mir nach monatelangem bürokratischen Kampf gelungen, Myanmar von China nach Indien zu durchradeln, ständig begleitet von einer Eskorte (siehe Bericht auf www.lemlem.de). Leider konnte ich die Verbindungen von damals nicht mehr auffrischen. Der Kontakt zur Reiseagentur ist abgebrochen. Und viel trauriger: San Win, der Guide, ist in der Zwischenzeit verstorben. Er dürfte nicht einmal das 40ste Lebensjahr erreicht haben.
November 2003: mit San Win (links) in den Sperrgebieten von Myanmar
Anfang oder Mitte Februar wird ein motorisierter Konvoi Myanmar mit Sondergenehmigungen von Indien nach Thailand durchqueren. Heike und Julian, die mir zum ersten Mal im kirgisischen Osh begegnet sind, haben angeboten, mich und das Fahrrad in ihrem betagten Mercedes-Bus mitzunehmen. Ich werde in Myanmar zwar nicht radeln können, auf diese Weise aber immerhin einen Flug vermeiden.
Jetzt ist Eile angesagt. 2000 Kilometer hinauf nach Kalkutta fahren, um dort auf dem Konsulat das Myanmar-Visum zu beantragen, dann 1800 Kilometer nach Moreh - zur Grenze, wo ich den Konvoi hoffentlich rechtzeitig erwische. Bis nach Kalkutta werde ich die meiste Zeit auf dem National Highway 5 unterwegs sein.
Manchmal entwickelt sich ein Bild in der Umwelt ja nur langsam, während man sich nähert. Hockt da jemand am Waldrand, oder ist das nur ein Busch? Man kommt dichter heran und erkennt: Ah, es ist ein Busch.
Ich fahre auf dem NH5 Richtung Norden, als ich in der Mittagszeit weit vor mir auf der Straße einen Blumenhaufen liegen sehe. Auf der rechten meiner beiden Spuren, der Spur, die beim indischen Linksverkehr unserer deutschen Überholspur entspricht. Eine echte Überholspur gibt es in Indien allerdings nicht, da man rechts oder links an den anderen vorbeiziehen darf.
Ein Haufen von Blumen oder Blüten liegt dort, als hätte ein Händler einen Teil seiner Ladung verloren. Davor liegt noch etwas, was ich nicht deuten kann. Sind es zwei Hunde? Sieht aus wie zwei daliegende Windhunde, langgestreckt nebeneinander. Das wären die ersten Windhunde, die ich in dieser Gegend sehe.
Als ich näherkomme, erkenne ich zwei nackte Füße. Es sind die Füße eines Menschen. Nackte Waden und Oberschenkel schließen sich an, der Unterleib in einer kurzen hellen Hose, dann ist der Körper zu Ende. Die Blumen und die Blütenkränze bedecken die Stelle, an der der Oberkörper abgerissen ist. Ein halber menschlicher Körper liegt auf dem NH5. Weit und breit sind keine Passanten zu sehen. Hier scheint auch die Neugier der Inder ihre Grenzen zu finden. Die Autos, die mich überholen, weichen auf die andere Spur aus und fahren mit unvermindertem Tempo weiter. Sie umkurven die menschliche Leiche wie ein überfahrenes Tier.
Das Fahrrad ist das ideale Reisefahrzeug, weil man relativ schnell vorankommt, aber die Umwelt viel besser erfasst als im Auto. Weil man Gerüche riecht, Kälte, Wärme und Nässe fühlt, weil man hört und alles viel genauer sieht. Heute hätte ich lieber in einem schnellen Auto gesessen. Ohne es zu wollen, habe ich im Vorbeifahren eine Serie von Fotos gemacht. Sie sind sehr scharf. Und sie werden sich tief einbrennen. Auch Alzheimer, sollte er denn kommen, wird diese Bilder nicht löschen können. Erst der eigene Tod.