Zehn Gramm

(Nicaragua)

14.4.2015 - Quepos / Costa Rica (42737 km)

Managua am späten Nachmittag. Kurz vor 18 Uhr ist es noch nicht ganz dunkel, die eben untergegangene Sonne wirft noch etwas Licht über die Hauptstadt Nicaraguas. Der Stadtteil, in dem das "Managua Backpackers Inn" liegt, gilt als sicher, eine gute Wohngegend um das Einkaufszentrum Metrocentro.

200 Meter von dem Hostel entfernt biege ich in eine Seitenstraße ein, die diagonal auf eine große Kreuzung zuführt. Bis dorthin sind es keine 100 Meter. Ich gehe auf die Kreuzung zu, ahne nichts.

Rechts hinter mir raschelt neben dem Weg etwas im Gras. Ich drehe mich um und sehe einen Mann, der aus einer Zaunlücke getrabt kommt. Für einige Sekunden denke ich, dass er wohl hinter dem Zaun gepinkelt hat. Dann sehe ich das Messer in seiner rechten Hand. Ein riesiges Messer mit einer 40-Zentimeterklinge, eher eine kleine Machete.

Bevor ich loslaufen kann, greifen mich zwei Hände von vorn rechts. Ein zweiter Mann ist plötzlich da. Er muss sich hinter einer kleinen Wellblechwand versteckt haben. Ich will mich losreißen, stürze aber dabei und falle auf den Rücken. Auch der mit dem Messer steht inzwischen über mir. Jetzt gibt es keine Chance mehr zu entkommen.

Wer handelt rational, wenn er auf dem Rücken liegt und eine 40-Zentimeterklinge über ihm schwebt? Ich strampele und rufe laut auf Deutsch: "Ey, hört auf! Hört auf! Lasst mich in Ruhe!" Strampele weiter und rufe weiter.

Wertsachen habe ich nicht bei mir, nur 800 Cordoba, etwa 30 Dollar. Aber ich komme gar nicht dazu, den Banditen die Scheine freiwillig auszuhändigen, weil sie meine Arme festhalten. Sie selbst finden das Geld nicht, während sie die Hose nach Taschen absuchen. Sie fragen mich nichts. Ich spreche nicht mit ihnen. Rufe aber weiterhin: "Hört auf! Haut ab!" Nur 40 Meter entfernt fahren Autos und Mopeds über die große Kreuzung, andere warten vor der roten Ampel. Der Verkehrslärm ist groß, niemand scheint mich zu hören, und offenbar erkennt auch niemand, was hier vor sich geht.

Trotzdem werden die beiden ungeduldig und nervös. Ich sehe, wie das Messer auf mich zukommt. Es ist der Ältere, der es in der Hand hat und nun zusticht. Er trifft den rechten Oberarm. Doch die Spitze des Messers ist stumpf. Der Arm schmerzt etwas, aber er blutet vermutlich nicht.

Die beiden werden zunehmend unsicher. Immer öfter schauen sie zur nahen Hauptstraße. Dann hören wir eine Stimme, die fragend auf uns zukommt. Noch einmal geht eine Hand links an meine Hose, dahin, wo tatsächlich mein Geld steckt. Die Tasche hat einen Reißverschluss, die Zeit wird knapp, die Stimme, eine weibliche Stimme, kommt näher. Vielleicht bringt sie Verstärkung - die Räuber entscheiden sich für die Flucht.

Ich stehe auf und laufe zur Kreuzung, von wo die Stimme drang, die mich befreit hat. Als ich auf die Frau zugehe, kommt eine weitere Person von der Straßenmitte herbei. Der junge Mann hat irgendetwas in seiner Hand. Ich schrecke zurück, denke schon wieder ans Wegrennen. Doch dann erkenne ich, dass er nur einen Gummiwischer hält - er reinigt die Windschutzscheiben der Autos, die an der Ampel vor der Kreuzung warten. Hat seine Arbeit nur eben unterbrochen, weil er neugierig geworden ist. Zögerlich und scheu reiche ich der Frau die Hand: "Vielen Dank, Seňora. Vielen Dank!"

Ich hatte ja selbst schon mit dem Gedanken gespielt, mir eine kleine Machete zuzulegen. Aber möglicherweise eskaliert eine solche Situation dann erst recht.

37 Jahre nach meiner ersten Radtour - nach nun 200.000 Radreisekilometern - war dies der erste Überfall, den ich erleben musste. Materielles habe ich nicht verloren. Wohl aber ein gutes Stück meines Optimismus'. Noch lange werde ich in bestimmten Situationen schreckhaft sein. Wenn etwa jemand plötzlich um eine Ecke gelaufen kommt; oder wenn ein Auto neben mir hält und Menschen aussteigen.

 

Gestern Abend ist mein Bruder Max mit dem Flugzeug aus Deutschland in Managua eingetroffen. Vor zwei Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen, als Max zum Auftakt meiner Reise die ersten Tage bis nach Zittau mitradelte. Jetzt quatschen wir noch bis tief in die Nacht hinein, obwohl Max in den letzten 24 Stunden kaum geschlafen hat.

Max ist zu Besuch nach Nicaragua gekommen!

 

 

Heute Mittag dann ein seit langem verabredetes Treffen mit Alvaro Zamora, meinem ehemaligen Siemens- und Betriebsratskollegen in Nürnberg. Alvaro hat weit mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland verbracht. Er kam 1962 als 19jähriger nach Süddeutschland und zog, nach dem Abschluss von Deutschkursen in Grafing, nach Berlin. Dort holte er das deutsche Abitur nach und absolvierte an der TU Berlin das E-Technik-Studium.

Aus seiner Werkstudentenzeit in Nicaragua hatte Alvaro bereits Kontakte zu Siemens. Nach einem Praktikum und dem Abschluss des Diploms bekam er bei Siemens in Berlin eine Festanstellung. 1981 wechselte er an einen Erlanger Standort, und ein Umzug der Abteilung führte ihn schließlich nach Nürnberg, wo wir uns kennenlernten.

In Managua treffe ich auch meinen ehemaligen Arbeitskollegen Alvaro Zamora wieder.

Die deutsche Staatsangehörigkeit hat Alvaro 1996 erhalten. Eigentlich hätte er im Gegenzug den nicaraguanischen Pass abgeben müssen, doch weil Nicaragua ihn nicht aus der Staatsangehörigkeit entließ, besitzt er heute beide Pässe. Im gleichen Jahr wurde er bei Siemens in den Betriebsrat gewählt. Sieben Jahre später ging er in den Vorruhestand.

Nach dem Tod seiner deutschen Frau zog er 2010 endgültig zurück nach Nicaragua. Heute lebt er in Jinotega in den Bergen im Norden des Landes mit seiner zweiten Frau, die er im vergangenen Jahr geheiratet hat. Vor zwei Monaten ist Alvaro noch einmal Vater geworden. Den größten Teil seiner Zeit widmet er nun der Familie und seinem liebsten Hobby, dem Fußball, der ihn als aktiven Spieler und als Betreuer durch ganz Nicaragua führt. Einmal jährlich besucht er Deutschland. Dort werden wir uns wohl 2017 oder 2018 das nächste Mal wiedersehen.

 

Beim Start zu meiner Tour de Friends vor zwei Jahren wäre auch der radfahrbegeisterte Erlanger Oberbürgermeister Siegried Balleis gern ein paar Tage mitgeradelt, doch er war zu der Zeit im Osterurlaub. Stellvertretend übergab mir Bürgermeisterin Elisabeth Preuß am Gründonnerstag 2013 Balleis' Grußschreiben an die Erlanger Partnerstädte. "Wenn in der Zwischenzeit der Bürgermeister einer Partnerstadt wechselt", sagte sie, "schicken wir Ihnen einen aktualisierten Brief nach." - Ich sprach es nicht aus, sondern dachte in dem Moment nur bei mir: Und wenn unser OB in der Zwischenzeit wechselt? Dann müssten ja alle Briefe aktualisiert werden.

28. März 2013: Bürgermeisterin Elisabeth Preuß überreicht mir in Erlangen die Grußschreiben an unsere Partnerstädte. (Foto: Tilman Schwob)

 

 

Was ich damals gar nicht wusste: Bereits ein Jahr nach meinem Aufbruch sollte in Erlangen gewählt werden. Und was nur wenige erwartet hatten: Es kam es zu einer Stichwahl, an deren Ende tatsächlich einer neuer Erlanger Oberbürgermeister stand.

Ein weiteres Jahr später ergibt sich hier in Nicaragua die schöne Gelegenheit, den neuen OB Florian Janik kennenzulernen. Er leitet eine Erlanger Delegation, die unsere Partnerstadt San Carlos besucht. Gleichzeitig ist eine Delegation aus Jena da, um dessen Partnerstadt San Marcos einen Besuch abzustatten. Erlangen und Jena sind miteinander ebenfalls durch eine Städtepartnerschaft verbunden. Eine etwas verwirrende Dreiecksgeschichte - man könnte aber sagen, San Carlos und San Marcos sind miteinander verschwägert  :-)

Drei Tage nach Max' Ankunft treffen wir uns in San Marcos mit der Erlanger Delegation, die dort noch einen Zwischenstopp vor der Rückreise nach Deutschland eingelegt hat. Ich lerne nicht nur Florian Janik kennen, sondern treffe auch Elisabeth Preuß wieder. Im Casa Cultural von San Marcos nehmen wir an einem Kulturabend teil, dessen Höhepunkt der Auftritt eines Jenaer Streichquartetts ist.

Das Jenaer Quartett mit zwei jungen nicaraguanischen Musikerinnen, die einige Stücke begleiteten.

 

 

 

 

 

 

 

Beim anschließenden Abendessen besprechen wir auch das Thema "alte Briefe". Ich möchte gern die originalen Grußschreiben austragen, die seit Beginn der Tour in meinen Packtaschen stecken. Dass sie noch von OB Balleis stammen, macht die Länge ihrer Reise doch nur umso greifbarer. Allerdings haben auch in manchen Partnerstädten schon Bürgermeister gewechselt, die Adressaten einiger Briefe sind also nicht mehr im Amt. Glücklicherweise gilt das nicht für San Carlos, dort kann ich nächste Woche auf jeden Fall noch den Balleis-Brief überreichen. Bis zur nächsten Partnerstadt bleibt dann viel Zeit, darüber nachzudenken, wie wir das Adressatenproblem lösen: Bis ich in Beşiktaş am Bosporus eintreffe, werden weitere zwei Jahre vergehen.

Der Apoyo-See mit dem Vulkan Mombacho im Hintergrund

Von San Marcos fahren wir weiter ins nahe Granada am Nicaragua-See, Max mit dem Bus, ich mit dem Fahrrad direkt vorbei am Apoyo-See, an dessen Südufer der Vulkan Mombacho aufsteigt. Ursprünglich hatte Max geplant, in Nicaragua ein Fahrrad zu mieten, um mich auf einigen Etappen durch das Land zu begleiten. Nun hat er sich komplett gegen das Radeln in diesem Urlaub entschieden. Schade, denn ich wäre gern mit ihm zusammen in San Carlos angekommen. Aber es ist okay. In dieser gnadenlosen Hitze ist das Radfahren wirklich kein Vergnügen, und es ist sein Urlaub. Er hat nur sechs Wochen im Jahr, ich habe zwölf Monate.

Granada und León, das im Nordwesten des Landes liegt, sind die kulturell bedeutendsten Städte Nicaraguas, mit einer langen kolonialen Vergangenheit. Der Hauptstadtstatus wechselte im 19. Jahrhundert mehrmals zwischen ihnen hin und her, bis - quasi als Kompromisslösung - Managua zur Hauptstadt erklärt wurde. Granada war so reich, dass es im 17. Jahrhundert mehrmals von Piraten geplündert wurde, die den schwierigen Weg aus der Karibik kamen. Er führte den Rio San Juan hinauf bis zu dessen Ursprung und dann quer über den Nicaragua-See nach Nordwesten.

Granada

Das begehbare Dach der Kathedrale in León (Catedral Basilica de la Asunción). Man könnte glauben, man sei auf der griechischen Insel Santorin.

Derzeit ist der Nicaragua-See im Zusammenhang mit dem "Großen Kanal" in den Schlagzeilen, der in naher Zukunft eine Alternativroute zum Panamakanal bilden und den Atlantik durch den See hindurch mit dem Pazifik verbinden soll. Bau und Betrieb des Kanals liegen in chinesischen Händen. Auf der Pazifikseite wurde mit dem Bau Ende 2014 begonnen. Im Osten ist der genaue Verlauf des Kanals noch immer nicht bekannt, Vermessungsteams tauchen bei verdutzten Farmbesitzern auf, denen bisher niemand gesagt hat, dass ihr Landbesitz von Enteignung betroffen ist. Es gibt Proteste und Straßenblockaden, aber gegenüber den einflussreichen Kanalbefürwortern sind die Bewohner dieser Region praktisch machtlos.

Auch die schwerwiegenden Eingriffe in die Regenwaldlandschaft machen das Projekt äußerst bedenklich. Insbesondere im Osten Nicaraguas sind unberührte Landstriche betroffen, die für viele bedrohte Tierarten das letzte Rückzugsgebiet bilden.

San Carlos, Partnerstadt der Region Nürnberg-Erlangen.

Während ich um den See herum nach San Carlos fahre, bleibt Max noch einige Tage in Granada. Er wird mit dem Schiff nachkommen. In der Partnerstadt ist meine Ankunft angekündigt, Ineke empfängt mich sehr herzlich, eine Holländerin, die seit fünf Jahren in San Carlos lebt und auch einige Jahre im Rathaus gearbeitet hat. Der Bürgermeister weilt in Managua, wir verschieben die Übergabe des Erlanger Grußschreibens um ein paar Tage.

In der Zwischenzeit fahren Max und ich von San Carlos auf dem Rio San Juan mit einem Linienboot bis zum Atlantik. Auf demselben Weg, den vor 150 Jahren Granadas Schiffe genommen haben, um Handel mit den mittel- und südamerikanischen Nachbarn zu treiben, dem Weg, den die Piraten mehrmals kamen, um die Stadt auszurauben. Unsere Fahrt dauert zwölf Stunden, unterbrochen von einem Übernachtungsstopp in El Castillo. Hier bauten die Spanier 1675 - an einer strategisch günstigen Flussbiegung mit Stromschnellen - ein Fort, um Piraten (und auch die englischen Rivalen bei der Kolonisierung Mittelamerikas) vom Vordringen zum Nicaragua-See abzuhalten.

Eine kleine Siedlung am Rio San Juan

Der Fluss windet sich durch dichten Regenwald. Je näher wir dem Ozean kommen, desto reicher wird die Fauna. Wir sehen drei Meter lange Alligatoren, die faul in der Sonne liegen. Einer lässt sich dann aber doch durch unser Boot aufschrecken, hebt wie mit einer Hydraulik seinen Bauch von der Sandbank und gleitet ins Wasser.

Zwischendurch gibt es immer wieder abgelegene Farmsiedlungen. Auch El Castillo und San Juan de Nicaragua, an der Mündung des Flusses in den Atlantik, sind abgelegen wie Inseln. Die kleinen Städte sind nicht mit dem Straßennetz verbunden, weder hier noch dort gibt es Autos und Straßen. Nur Wege, auf denen Fußgänger und Fahrradfahrer unterwegs sind, gelegentlich auch mal Eselskarren, die größere Lasten transportieren. Es herrscht eine himmlische Ruhe.

Everaldo Vargas nimmt das Erlanger Grußschreiben entgegen (Foto: Ineke de Groot).

 

Am Morgen nach unserer Rückkehr verabschiede ich Max am Busbahnhof. Er wird noch eine Woche durch den bergigen Norden des Landes reisen und dann nach Hause fliegen.

Inzwischen ist zwar auch der Bürgermeister wieder zurück in San Carlos, doch er findet keine Zeit, das Grußschreiben aus Erlangen persönlich entgegenzunehmen. Ich überreiche den Brief schließlich an Everaldo Vargas, der die internationalen Beziehungen von San Carlos koordiniert.

Wieder ist mein Gepäck etwas leichter geworden - um zehn Gramm.

 
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Maks

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