Der Weiße Planet

2.10.2015 - San Juan (50740 km)

Der Titicacasee - 3800 Meter über dem Meer in den Anden gelegen - wirkt auf den Landkarten von Südamerika eher unauffällig. Das liegt daran, dass die Landmasse dieses Halbkontinentes einfach gewaltig ist. Doch der größte Hochgebirgssee der Erde ist immerhin dreimal so groß wie das Saarland, der Bodensee passt gar 15 Mal hinein.

Durch den Titicacasee hindurch verläuft die peruanisch-bolivianische Grenze. Der etwas größere nordwestliche Teil liegt in Peru, der südöstliche in Bolivien. Auf der peruanischen Seite bleibe ich nur kurz, um bei Puno dem kleinen Völkchen der Uros einen Besuch abzustatten. Sie leben ein paar Kilometer vom Ufer entfernt auf Schilfinseln im seichten Wasser. Bei ihnen ist alles aus Schilf. Nicht nur der Untergrund, auf dem sie leben, sondern ebenso die Hütten und die Boote. Wurzeln und Mark des Schilfs sind Bestandteil ihrer Nahrung.

Vor dem Besuch der Uros steht das Kassenhäuschen.

Die Uros bekommen sehr viel Besuch. 50 bis 100 Motorboote täglich, besetzt mit 20 Passagieren, fahren hinaus zu dem breiten Schilfgürtel, der die Bucht von Puno gegen den offenen See abgrenzt. In einem Kanal durch diesen Schilfgürtel steht, auf einer Minischilfinsel, ein Kassenhäuschen. Unser Guide lehnt sich aus dem Boot heraus und zahlt, der Eintrittspreis ist in der Tour enthalten. Auf der ersten bewohnten Insel, die wir ansteuern, tanzen ein paar Frauen mit Bowler-Hüten und in weiten Röcken zur Begrüßung wild herum wie Cheerleader bei einem US Football Match. Das passt so gar nicht zu dem gewohnten Bild, denn die indigenen Hochlandfrauen sind üblicherweise sehr zurückhaltend und verschlossen. Aber gute Stimmung gehört hier zum Business, denn die Damen möchten den Besuchern auch gern ein paar Souvenirs verkaufen.

Am Ufer einer Schilfinsel erwarten uns ungewöhnlich aufgeregte Andenfrauen.

Gäbe es den Tourismus nicht, würden sie vielleicht schon alle wieder an Land leben -- von wo sie vor einigen Hundert Jahren von rivalisierenden Völkern vertrieben worden sind. Auf den Inseln wohnen inzwischen nur noch ein paar Hundert der rund 2000 Uros. Und das Leben ist anstrengend, allein schon, weil der Boden unter den Füßen verrottet. Ständig muss Schilf geerntet, getrocknet und nachgelegt werden, da die unteren Schichten wegfaulen.

Alles aus Schilf

Eine Woche bleibe ich noch auf der bolivianischen Seite des Titicacasees im beschaulichen Copacabana, dann geht die Reise vorbei an La Paz weiter nach Uyuni im Südwesten Boliviens. Jenseits von Oruro komme ich flotter voran als erwartet. Die Straße nach Uyuni wird gerade asphaltiert, von den 300 Kilometern sind nur noch etwa 70 Kilometer Sand- und Schotterpiste. Diese Abschnitte allerdings können mit ihren ausgeprägten Wellblechstrukturen nervenaufreibend sein.

Seit Lima trage ich jetzt schon eine Ersatzfelge mit mir herum. Es ist die ursprüngliche Vorderradfelge, eine "Big Bull" mit 25 Millimetern Maulweite (mit 25mm innerer Breite der Felge). Die Felgenflanken sind nahezu durchgebremst - darüber darf man sich nach 50.000 Kilometern auch nicht beschweren. In der peruanischen Hauptstadt konnte ich keinen vollwertigen Ersatz bekommen, nur eine 19mm-Felge, die aber für den 50er-Reifen eigentlich zu schmal ist. Da auch die hintere Big Bull schon 50.000 Kilometer auf dem Buckel hat, wollte ich die ausgetauschte Felge nicht fortwerfen. Da war sicherlich auch eine Portion Aberglaube dabei, nach dem Motto: Sobald ich sie entsorge, wird mir eine der laufenden Felgen auseinanderbrechen.

Doch so eine sperrige Felge ist ein zusätzliches Gepäckstück, das nicht nur das morgendliche Beladen des Fahrrades aufwendiger macht, sondern außerdem den Zugang zu den Packtaschen versperrt. Sechs Wochen hinter Lima beschließe ich, die Felge in Uyuni zu deponieren. Nicht fortzuwerfen - aber zurückzulassen. Bis nach Antofagasta sind es jetzt nur noch 1000 Kilometer. Dort, in Chile, wird sich auf jeden Fall Ersatz auftreiben lassen. Und sollte es in den nächsten Tagen tatsächlich nötig werden, könnte ich die deponierte Felge hier wieder abholen.

Der Eisenbahnfriedhof bei Uyuni

Wo aber in Uyuni eine blanke Felge hinterlegen? In der Herberge? Werden die das ernst nehmen, den Wert der Felge respektieren? Mir fällt schließlich ein besserer und zugleich sehr würdiger Ort für die treue Big Bull ein: der Eisenbahnfriedhof, drei Kilometer außerhalb der Stadt. Im Ort kaufe ich einen halben Meter Eisenkette und ein kleines Schloss und fahre dann hinaus zu den ausgedienten Lokomotiven, von denen einige über hundert Jahre alt sein sollen. In langen, langen Reihen sind die rostbraunen Zugmaschinen abgestellt. Zum Teil sind sie filetiert, in der trostlosen Wüstenlandschaft wirken die Gerippe geradezu geisterhaft. In zweiter Reihe ist der Tender einer Lok mit frischen blauen Graffiti besprüht. Prima, diese Lok finde ich leicht wieder. Im Führerhaus mache ich die Felge fest und versehe sie noch mit einem Pappschildchen mit der Bitte, sie auch wirklich nicht zu entfernen. Tschüß Big Bull, lebe wohl!

Im Führerhaus dieser Lok ruht meine treue "Big Bull"-Felge, die mich 50.000 Kilometer weit von Deutschland über Petersburg, Pakistan, Indien, Shanghai, Nord- und Mittelamerika bis nach Südamerika begleitete. Falls jemand von Euch hier vorbeikommt ... ich würde mich über Nachricht freuen, ob die Felge noch dort ist und wie es ihr geht: peter via tour-de-friends

 

In der Region von Uyuni befinden sich einige Startrampen, über die man in eine andere Welt entschwinden kann. In eine völlig fremde Welt, eine lebensfeindliche, surreale - jenseits von Mutter Erde: Man gleitet hinüber auf den Weißen Planeten. Der Übergang ist sanft, und jeder fällt dabei in einen Traumzustand. Die Träume während des Transfers sind unterschiedlich, je nach Stellung der Gestirne. Zu manchen Jahreszeiten glaubt man, durch Wasser auf die Salzschicht des Weißen Planeten zu schweben. Zu anderen Jahreszeiten scheint es ein langsamer Übergang auf festem Untergrund von Erdbraun nach Schneeweiß zu sein.

Sobald man wieder aufwacht, ist alles in weitem Umkreis blendend weiß. Die Salzschicht unter den Reifen ist hart wie das Eis eines lange schon zugefrorenen Sees. Sie ist in eine schier endlose Anzahl von Sechsecken unterteilt, die durch die Salzausblühungen entstehen. Mit dem Fahrrad fährt es sich über diese Kanten wie auf einem Radweg aus leicht höhenversetzten Betonplatten.

Allerdings kommen heutzutage so viele Touristen in geführten Geländewagenreisen auf den Weißen Planeten, dass sich auf den Hauptrouten reifengraue, glattgefahrene Pisten gebildet haben. Als ich vor 13 Jahren schon einmal hier war, gab es nur einige wenige weiße Spuren, die in verschiedene Richtungen führten. Die Suche nach dem richtigen Weg war damals ein wenig Glückssache.

Auf der grauen Touristenroute radele ich zunächst zur Kaktusinsel, mit rund 800 Metern Länge eine der beiden größeren Inseln in diesem weißen See. Sie liegt ungefähr 70 Kilometer vom Aufwachen aus der Traumphase entfernt. Die Insel ist jedoch erst zu erkennen, wenn man die Hälfte des Weges zurückgelegt hat. Langsam taucht sie dann aus der Salzfläche auf und hebt sich dunkel ab vor den hellblauen Gebirgszügen im Hintergrund. Vorher versteckt sie sich hinter dem Horizont, denn der Weiße Planet ist leicht gewölbt. Ganz leicht nur. Im Grunde aber ist er eine Scheibe. Das konnte der liebe Gott nicht anders arrangieren, denn wäre der Planet kugelig rund wie die Erde, würde man an den Seiten herunterrutschen. Bei einer Oberfläche von knapp 11.000 Quadratkilometern - das ist etwa die Fläche des Libanon - wäre die Gravitation einfach zu gering. Umgeben ist diese Salzscheibe von einem Ring von Hügeln und Bergen; an einer Stelle erhebt sich ein markanter Vulkan etwa 1500 Meter über die gleißende Ebene hinaus.

Auf der Hauptroute zur Kaktusinsel. Die Insel selbst liegt noch hinter dem Horizont. Die Bergkette im Hintergrund ist über 100 Kilometer entfernt.

Zwei Stunden vor dem Sonnenuntergang komme ich an der Kaktusinsel an. Heftiger Gegenwind hat versucht, mich daran zu hindern, so dass ich fast sechs Stunden für die 70 Kilometer unterwegs war. Dazwischen gab es nichts. Nichts außer Salz. Kein Tier, keine Pflanze. Diese reine Salzebene ist eine Wüste, wie es wohl nirgendwo im Weltall eine leblosere gibt.

Aber dann an der Insel plötzlich dieses Getöse. Zwei, drei Dutzend Geländewagen stehen am Ufer. Moderne Musik dröhnt aus einigen Autos, große Flaggen vieler (touristisch wichtiger) Erdenländer flattern anbiedernd einladend vor der Insel im Sturm. Eindeutige Schilder verweisen darauf, dass man hier nicht auf das Salz pinkeln darf. Jedenfalls nicht als Mann. (Ich werde einen Hinweis an die Gleichstellungsbehörden geben!) Steinbarrieren markieren, wie weit sich die Autos dem Ufer nähern dürfen. Oje - auch da hat sich also seit 2002 viel geändert, als ich an dieser Insel gerade einmal zwei Geländewagen mit freundlichen, offenen Franzosen traf. Jetzt ist hier aufgrund der Massen alles anonym. Niemand grüßt.

Dieses Verbotsschild hat meinen ausgeprägten Sinn für Gleichberechtigung empfindlich verletzt.

Fast alles anonym. Eine junge Frau Mitte 20 setzt sich mit einer Dose Bier aus dem Kiosk neben mich. Wir kommen ins Gespräch. Ob ich die Ein- oder die Dreitagestour mache, fragt sie. Steilvorlage für die - allerdings spontane - Antwort: Nee, ich mache eine 1500-Tage-Tour. Sie wundert sich. Ich zeige auf das Fahrrad, das 30 Meter entfernt steht. Erkläre es und frage dann, welche Tour sie denn macht und woher sie kommt.

Bei der Kaktusinsel

Sie hat wenig Zeit, macht die Eintagestour und kommt aus den USA. Dann stellt sich heraus - und so etwas passiert häufiger, als man glauben möchte -, dass man sich schon einmal ganz, ganz nahe war, ohne es bemerkt zu haben.

Die Kaktusholztür einer Steinhütte auf der Insel

 

"Aha, USA?" frage ich. "Und woher dort?"

"California."

"Ah, da war ich auch schon. Wo denn in California?"

Fragende Antwort von ihr: "Sacramento!?" Das kann ja nun nicht jeder Europäer genau lokalisieren.

Kann ich inzwischen, seit einem Jahr. Da war ich nämlich ganz in der Nähe. In Davis, um dort eine Bekannte zu besuchen.

"What? Ich wohne in Davis!"

"Das ist ja unglaublich. - Übrigens mit Abstand die fahrradfreundlichste Stadt, die ich in den USA gesehen habe. Und in der U.S. Bicycle Hall of Fame durfte ich einen Vortrag über meine Reise halten."

"Da wohne ich, genau gegenüber der Hall of Fame!"

Das wird ja immer verrückter. Wir fangen an, ein bisschen zu spinnen. - "Hast du denn den tosenden Beifall damals nicht gehört? Im September 2014?" - Na klar, wegen der Lärmbelästigung hat sie die Polizei gerufen...

Schnell noch ein gemeinsames Foto zum Abschied, denn ihr Guide ruft. In einer Stunde wird sie mit ihrer Gruppe den Weißen Planeten verlassen und schon in zwei Tagen wieder durch die Fenster ihrer Wohnung auf die Hall of Fame in Davis blicken.

Nach und nach leert sich die Insel. Als ich kurz vor Sonnenuntergang zwischen den riesigen Kakteen einen Hügel hinaufmarschiere, kommen mir die letzten Touristen entgegen, zwei Deutsche mit einem sehr freundlichen Reiseführer. Wir unterhalten uns noch eine Weile, dann legt auch ihr Geländewagen vor der Insel ab.

Ich weiß, dass ich auch nur ein Reisender bin. Und die Diskussion "guter Tourist oder schlechter Tourist" - also Individualreisender vs. Pauschalreisender - gefällt mir grundsätzlich nicht. Viele, die sich für die Guten halten, machen auch ihre Fehler, nutzen beispielsweise Gastfreundschaft der Einheimischen über Gebühr aus. Wie auch immer - an diesem Abend bin ich trotzdem froh, dass all die anderen hier nicht übernachten dürfen, sondern zurück in ihre gebuchten Quartiere auf der Erde müssen. Ich teile die Kaktusinsel bis zum nächsten Morgen allein mit den acht Menschen, die diesen kleinen Hügel verwalten und tagsüber die Gäste bewirten.

Kurz nach sechs Uhr sind schon vor dem Sonnenaufgang die ersten zehn Autos da. Es werden mehr und mehr, doch zwei Stunden später zieht die Karawane weiter, und ich bin wieder allein. Noch einmal wandere ich durch die Hügel mit den unzähligen Kakteen. Viele sind tausend Jahre alt und über zehn Meter hoch.

Nicht überall ist die Salzfläche glatt wie Beton. Auf dem Weg vom Vulkan zur Fischinsel muss ich wegen der Salzbeulen streckenweise Schritttempo fahren.

Dann mache ich mich auf den Weg in die ruhigen Gegenden des Weißen Planeten, zunächst Richtung Vulkan, dann weiter zur Fischinsel. Nicht ohne vorher kräftig Sonnencreme aufgetragen zu haben. Im Gesicht spüre ich bereits, dass ich gestern zu geizig damit war. Die Einstrahlung auf der reflektierenden Salzschicht ist tückisch, man bekommt leicht einen Sonnenbrand an Stellen, an denen es unter einem Hut mit breiter Krempe eigentlich gar keinen geben dürfte: an den Ohren, auf der Stirn und sogar unter dem Kinn.

Mein konventioneller Selfi Stick

Das charakteristische Bild der Salzoberfläche sind die Sechsecke von ein bis zwei Quadratmetern Größe. Doch die Strukturen unterscheiden sich von Gegend zu Gegend. An einigen Stellen sind die Ränder der sechseckigen Kacheln nicht auftragend, sondern sie sind im Gegenteil feine Rinnen. Dort ist das Salz dunkler, leicht beigefarben, scheint also einen kleinen Anteil Erde zu enthalten. Dann gibt es Gebiete mit faustgroßen Salzbeulen, besonders ausgeprägt auf dem Weg vom Vulkan zur Fischinsel. Hier radelt man wie über eine Piste mit groben Steinen. An anderen Stellen hingegen ist die Oberfläche vollkommen glatt, dort fehlen sogar die Sechsecke. Am Ufer der Fischinsel wiederum ist die Salzschicht aufgebrochen wie vertrockneter Lehmboden.

Für eine weitere Nacht kehre ich schließlich zur Kaktusinsel zurück und drehe, wie schon vor zwei Tagen, noch eine Runde um die Insel. Und wie vor zwei Tagen repariert gerade ein Fahrer einen nicht mehr ganz neuen Geländewagen im Sichtschatten in einer rückseitigen Bucht - er will seine Klienten wohl nicht unnötig beunruhigen. Auf der Insel fühle ich mich fast schon heimisch, treffe nun auch die alte Aurelia wieder, die mir vor 13 Jahren ein einfaches, aber reichhaltiges Reisgericht kochte.

Am nächsten Morgen verabschiede ich mich kurz nach Sonnenaufgang von ihr. 40 Kilometer von der Kaktusinsel entfernt verlasse ich den Weißen Planeten auf der Seite, die dem großen Vulkan gegenüberliegt. Hier führt mich die Traumphase über eine sehr lange Rampe zur Erde zurück.

War nur der Übergang ein Traum? Oder alles?

 
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Maks

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