Route 66

Mit Wolfgang via Grand Canyon zur Erlanger Partnerstadt Riverside

9.12.2014 - La Paz / Mexiko (36558 km)

Die US-amerikanische Regierung mag in den vergangenen Jahrzehnten beliebige Fehler gemacht haben. Auf eine lustige Idee ist sie meines Wissens aber nicht gekommen: Ratschläge zu geben, in welcher Sprache man sich unterhalten soll. Wolfgang und ich sprechen auch "im öffentlichen Raum" Deutsch. (Wenn Amerikaner am Gespräch beteiligt sind, wechseln wir natürlich ins Englische.)

Wolfgang hat in Erlangen seine Siebensachen und sein Fahrrad eingepackt und ist nach Las Vegas geflogen. Von dort ist er mit dem Mietwagen nach Flagstaff gefahren und dann aufs Fahrrad gestiegen. Im winzigen Örtchen Cameron, östlich des Grand Canyon, haben wir uns nun getroffen. In den nächsten zwei Wochen werden wir nach Riverside fahren, zur zweiten Erlanger Partnerstadt, die auf meinem Weg um den Globus liegt.

Gleich der erste gemeinsame Tag wird mit dem Aufstieg zur Südseite des Grand Canyon recht anspruchsvoll. Wir klettern am Vormittag 1400 Höhenmeter und sind dann auf einer tollen Panoramastraße unterwegs, die immer wieder direkt an der Abbruchkante des Canyons entlangführt.

In Williams stoßen wir auf die alte Route 66. Die legendäre Straße verband seit 1926 als eine der ersten den Osten der Vereinigten Staaten mit dem Westen. Sie begann in Chicago und führte durch acht Bundesstaaten und über knapp 4000 Kilometer bis nach Santa Monica bei Los Angeles. Auf dieser Straße zogen auch viele Bewohner des mittleren Westens Richtung Pazifik, um der Dürre der Binnenstaaten zu entfliehen. Sie waren voller Tatendrang, und so wurde die Route 66 zugleich zu einem Symbol von Aufbruch und Neuanfang.

Die kleinen Orte am Wegrand stellten sich mit der Zeit ganz auf den Durchgangsverkehr ein, die Bewohner betrieben Tankstellen, Motels und Restaurants. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzten bald mehr und mehr Ortsumgehungen und Abkürzungen die zu schmal gewordene Straße. Für viele der Dörfer an der alten Route war das der Todesstoß. Als beispielweise ein neuer Abschnitt des Interstate Highway 40 in Arizona eröffnet wurde, war Seligman von einem Tag auf den anderen vom lukrativen Strom der Reisenden abgeschnitten. Der Verkehr rollte von nun an ein paar Meilen südlich an dem Dorf vorbei.

Wolfgang auf dem Weg nach Seligman

Durch die Initiative einiger Geschäftsleute - mit dem Ziel, die historische Route 66 touristisch zu beleben - kann Seligman inzwischen von einer Nostalgiewelle profitieren, die nicht zuletzt auch Wolfgang und mich ergreift. Einige weitere Dörfer sind im Stil der 60er Jahre herausgeputzt, Oatman etwa, das wohl ausschließlich vom Tourismus lebt. Die meisten Orte aber verfielen zu Geisterstätten.

Wolfgang und ich sitzen zwar fast jeden Tag auf den Fahrrädern, dafür aber meistens für kurze Etappen zwischen 80 und 100 Kilometern. Den Nachmittag nutzen wir für Besichtigungen, zum Lesen und auch für Recherche im Internet. Allmählich stellt sich heraus, dass der Weg durch die Mojave-Wüste etwas vertrackt ist. Je genauer wir nachforschen, desto mehr Dörfer auf der Landkarte erweisen sich als Geisterorte, in denen wir also kein Wasser nachtanken können.

In Seligman

 

Eines Tages findet Wolfgang heraus, dass wir nicht einmal mehr auf Amboy setzen können. Amboy war für uns der wichtigste Ort - auf halber Strecke durch die Wüste. Das berühmte "Roy's Motel" ist längst geschlossen worden, und es sieht so aus, als wäre das Dorf inzwischen völlig verwaist. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.

In den letzten Tagen habe ich - eher im Scherz - mehrmals den Wunsch geäußert, dass es doch noch einmal so richtig warm werden möge. Damit Wolfgang sieht, dass das Radeln durch die USA nicht immer so easy ist wie in unserer ersten Woche. Zurück kommt das als Boomerang: Als wir in Needles am Ostrand der Mojave-Wüste ankommen, ist es so heiß, dass Wolfgang beschließt, ein Teilstück mit dem Auto zu überbrücken.

Auch Jeff und Ellen, ein amerikanisches Ehepaar, das die Route 66 an sich auf der ganzen Länge beradeln wollte, steigen hier auf ein Auto um. Durch schwere Regenfälle sind nämlich vor einigen Wochen mehrere Brücken auf dem kalifornischen Abschnitt der Route 66 unterspült worden. Man kann die Brücken wohl mit dem Fahrrad schiebend umgehen; da aber Autos nicht durchkommen, wird es auf einer Strecke von knapp 100 Kilometern vollkommen einsam sein. Ellen und Jeff wollen jedoch von der Autobahn einen Abstecher nach Amboy machen und bei der Gelegenheit netterweise an Roy's Motel acht Liter Wasser für mich deponieren.

 

 

Auch Goffs verfällt

Ich starte in Needles morgens um 7 Uhr kurz nach dem Sonnenaufgang. Der größte Teil des heutigen Anstieges liegt hinter mir, bevor es richtig heiß geworden ist. Dann schiebt mich leichter Rückenwind nach Goffs. Nach 60 Kilometern ist es das erste Dorf, vermutlich verlassen.

Doch auf der Hauptstraße begegnet mir ein älterer Mann in einem elektrisch betriebenen Golf Cart. Er holt gerade seine Post bei den zentral aufgestellten Briefkästen ab. Statt mich anzusprechen, redet er nur mit seinem Hund, der dahergeschnüffelt kommt: "Geh weg!" ruft der Alte. "Der Mann arbeitet an seinem Reifen."

Der Reifen, an dem "der Mann" gerade arbeitet. Gut 200 stachelige Samen, sogenannte Goatheads, haben sich wie Mini-Morgensterne in die beiden Reifen gebohrt.

So ist es. Das Fahrrad liegt quer auf dem Asphalt. Ich bin seit 30 Minuten damit beschäftigt, die gut 200 kleinen spitzen Samen aus dem Profil von Vorder- und Hinterreifen zu ziehen, die ich mir beim Schieben abseits der Straße eingefangen habe. Einige der Stacheln sind abgebrochen und nur mühsam mit der Pinzette herauszuzupfen. Ich möchte keinen einzigen übersehen, um auf dem bevorstehenden einsamen Abschnitt in der Hitze nicht auch noch von einer Plattenserie geplagt zu werden.

Ob der coole Alte wohl von sich aus was zu mir sagen würde? Ich ergreife die Initiative: "Hallo, guten Morgen."

"Guten Morgen."

"Wie viele Menschen wohnen denn eigentlich in Goffs?"

"Zehn. - Seien Sie nicht irritiert durch das Schild am westlichen Ortseingang. Da steht '23', doch das ist von 2003."

"Und wovon leben Sie hier?"

Der Mann erzählt von einem Museum, das sie in Goffs haben. "Das ist aber keine wirkliche Einnahmequelle. Wir sind allesamt pensioniert und brauchen daher kein geregeltes Einkommen."

"Na, und schön ruhig ist es hier ja."

"Ja, das kann man so sagen."

Das Ortsschild von Essex ist doppelt veraltet: Inzwischen leben hier nicht mehr 100 Menschen. Und auch nicht "10.0". Sondern nur noch 5,0. Die Höhenangabe "1775" rechnet sich in Fuß (=> gut 500m über dem Meer).

 

 

 

 

Auch in Essex - rund 30 Kilometer weiter - steckt noch etwas Leben. Aus der "100" (Einwohner) am Orteingang hat ein Witzbold ein "10.0" gemacht. Allerdings stimmt auch das nicht mehr: Inzwischen wohnen hier nur noch fünf-Komma-null Menschen.

Hinter Essex eine erste Brücke, die durch die Wasserfluten neulich beschädigt wurde. Sie ist jedoch auf der linken Spur noch befahrbar. Weitere kleine Brücken folgen, die ebenfalls nur einspurig passierbar sind. Zwei gesperrte Brücken kann ich umgehen, indem ich durch das trockene Flussbett fahre. Auch der weitere Weg bis nach Amboy ist problemlos und wesentlich einfacher als erwartet.

Roy's Motel in Amboy. Das riesige Werbeschild geht mir nicht mehr aus dem Kopf -- es ist genial.

Und dann die große Überraschung: Amboy ist doch bewohnt. Roy's Motel ist zwar wirklich nicht mehr im Betrieb, aber das dazugehörige Cafe ist von 7 Uhr morgens bis 8 Uhr abends geöffnet. Sieben Tage die Woche. Völlig rätselhaft, warum man Wolfgang am Telefon den Eindruck vermittelte, dass nur noch sporadisch jemand in Amboy sei. Man könne jemanden schicken, hieß es. Jemanden schicken, wenn wir genau sagen könnten, wann wir ankommen.

"Von wo wollen die jemanden schicken?" haben wir uns gefragt. "Aus dem nächsten Ort, 50 oder 70 Kilometer entfernt? Um ein paar Flaschen Wasser zu verkaufen?"

Irgendwie sind das komische Vögel hier in der Mojave-Wüste.

In einer der verfallenden Hütten von Roy's Motels darf ich übernachten.

 

 

 

"Eine Handvoll", antwortet der Betreiber des Cafes. Meine Frage war auch hier, wie viele Bewohner der Ort denn habe. Als der Niedergang von Amboy unaufhaltsam war, versuchten die verbliebenen Einwohner, den Ort bei eBay zu versteigern. Der erwartete Betrag kam jedoch nicht zusammen. Schließlich kaufte der Betreiber einer kalifornischen Imbisskette das Dorf für gut 400.000 Dollar. Amboy scheint eine Art Hobby von ihm zu sein, es geht ihm wohl wirklich - wie er angibt - um den Erhalt dieses historischen Ortes. Den günstigen Preisen im Roy's Cafe nach zu urteilen, kann dies nur ein Zuschussgeschäft sein.

Für die Nacht darf ich eine der leeren, verfallenden Hütten des Motels beziehen. In der Hütte Nummer 1 stehen die Wasserflaschen, die Ellen und Jeff deponiert haben. Vielen, vielen Dank! Im Nachhinein gesehen, ist es nicht nötig gewesen, aber das hat niemand von uns allen geahnt.

"Wasser ist nichts", sagen die Tuareg in der Sahara. "Solange du es hast."

Ankunft in Twentynine Palms nach zwei heißen Tagen in der Mojave-Wüste -- mit völlig versalzener Kleidung. Für den Ersatz der ausgeschwitzten Mineralien wird reichliche Einnahme von Bier empfohlen. (Foto: Wolfgang Renz)

 

 

 

Im Ort Twentynine Palms treffen Wolfgang und ich uns wieder. Mit einem Umweg über Palm Springs radeln wir westwärts und erreichen schließlich nahe Los Angeles Erlangens jüngste Partnerstadt.

Karin Roberts, die Vorsitzende des Partnerschaftsvereins von Riverside, empfängt uns und betreut uns in den nächsten Tagen. Da zur Zeit auch eine kleine Kulturdelegation aus Erlangen zu Besuch ist, gibt es einen Empfang im Rathaus - eine gute Gelegenheit, den Grußbrief aus Erlangen an Mayor Rusty Bailey zu übergeben.

Wolfgang hatte mir aus Deutschland einige Ersatzteile für das Fahrrad mitgebracht, unter anderem einen neuen Faltreifen, der meinen Vorrat ergänzt und in die Packtasche wanderte. Vor unserem Abschied übernehme ich nun noch seinen fast neuen Vorderreifen. Er ersetzt meinen Hinterreifen. Der ist zwar nach 10.000 Kilometern noch in gutem Zustand, aber diese Gelegenheit zur Erneuerung lasse ich mir natürlich nicht entgehen.

Mayor Rusty Bailey nimmt das Erlanger Grußschreiben entgegen. Er ist überrascht, dass es noch von OB Siegfried Balleis stammt. (Foto: Wolfgang Renz)

 

 

 

 

Die bisherige Laufleistung der Schwalbe Marathon Mondial ist überragend: Der erste Hinterreifen hat 25.000 Kilometer von Erlangen bis kurz vor Shanghai gehalten, der Vorderreifen gut 33.000 Kilometer bis hinter Las Vegas. Und der zweite Hinterreifen ist - wie gesagt - nach 10.000 Kilometern noch gut in Form (sorry für diese eingebaute Werbung, aber es interessiert ja die Langstreckenradler, die hier mitlesen). Er wird jetzt noch eine ganze Weile mit Wolfgangs Rad unterwegs sein.

Blick vom Mt. Rubidoux auf Riverside

 

 

Auf dem Rückweg nimmt Wolfgang nun einige Dinge für mich mit nach Deutschland: Eine Festplatte mit meiner Datensicherung, ein Objektiv, das nur selten zum Einsatz gekommen ist, den Kocher, den ich in Mittel- und Südamerika wohl kaum noch nutzen würde. Und die Rolle Klopapier, die über ein Jahr lang von Kirgistan bis hierher mitgereist ist.

In Zentralasien und besonders in Indien war die Verfügbarkeit von Toilettenpapier ziemlich schlecht. Die Menschen dort benutzen üblicherweise Wasser und die linke Hand für die Reinigung. In einer Stadt in Rajasthan verbrachte ich im November 2013 einen ganzen Abend erfolglos mit der Suche nach Nachschub. Die Notration aus Kirgistan ist von der Sorte "graues Schmirgelpapier". Man könnte sie natürlich auch entsorgen oder als Packpapier verwenden. Aber sie ist inzwischen zu einem Teil der Reise mit Erinnerungswert geworden.

Die Klopapierrolle aus Kirgistan ist über ein Jahr bis nach Kalifornien mitgereist.

Wir verabschieden uns morgens um sechs Uhr; es war eine schöne gemeinsame Zeit. Wolfgang wird von Los Angeles zurückfliegen. Vielleicht sehen wir uns schon in Mittelamerika wieder.

Von meiner ersten Weltumradlung kenne ich das Phänomen des "Einsamkeitskaters", der mich immer dann befiel, wenn gute Freunde oder meine Mutter oder mein Bruder Max sich nach einem längeren Besuch wieder verabschiedeten. Dann bezahlte ich für diese guten Wochen mit einigen Tagen, in denen ich mich äußerst einsam fühlte. Obwohl ich vorher ja über Monate hinweg auch allein unterwegs war, hatte ich dieses Einsamkeitsgefühl nur nach einem solchen Abschied. Dieses Mal steuere ich bewusst dagegen, indem ich einen Umweg über San Diego mache, wo ich noch einmal Ellen und Carl Umland besuche, die mich im Yosemite Park auf ihren Stellplatz eingeladen hatten (siehe "Green Card").

Carl begeleitet mich am Morgen meines Abschieds - des Abschieds von ihnen und auch aus den Vereinigten Staaten - zwei Stunden mit dem Fahrrad Richtung Südosten. Statt über den Moloch Tijuana will ich über das wesentlich ruhigere Tecate die Grenze nach Mexiko überqueren.

Fast drei Monate war ich in den USA. Das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten liegt nun hinter mir. Ich bin gespannt, ob begrenzte Möglichkeiten nicht doch auch wieder ihren Reiz haben.

 
nächster Bericht "Viel Wind"
vorheriger Bericht "Der fliegende Cowboy"

Maks

Maks