Zeitsprung

(Russland / Kasachstan)

24.6.2013 - Astana / Kasachstan (7207 km)

An der Wolga in Samara

 

Jedes Jahr zur Umstellung auf die Sommerzeit - und danach wieder bei der Rückstellung - gibt es die einschlägigen Berichte in den deutschen Online-Medien: Der Zeitsprung um sage und schreibe eine ganze Stunde fügt uns gesundheitliche Schäden zu! (Siehe z.B. Spiegel Online.)

Kann man also eine Reise von Samara nach Ufa - ganz im Osten des europäischen Russlands - überleben? 150 Kilometer vor Ufa nämlich wird man urplötzlich um zwei Stunden nach vorn katapultiert.

Bis Ende März 2010 hatte Russland noch elf Zeitzonen, die dann aber aus wirtschaftlichen und administrativen Gründen auf neun reduziert wurden. Seitdem fehlt die Zeitzone UTC+5, in der Samara bis dahin lag. Jetzt hat man dort die gleiche Uhrzeit wie im 1000 Kilometer weiter westlich liegenden Moskau.

In den letzten Wochen hat sich auf meinem Weg nach Osten die Tageszeit dadurch unnatürlich entwickelt. In Samara geht die Sonne gegen vier Uhr auf, aber schon vor 21 Uhr unter. Das führt dazu, dass die Menschen zum Teil schon um fünf Uhr auf den Beinen sind. Nach dem Zeitsprung kurz vor Ufa ist nun wieder alles normal, und die Abende sind angenehm lang.

Spurrillen

Mit Ufa erreiche ich die Hauptstadt der autonomen Republik Bashkortostan. Die Bashkiren sind ein muslimisches Turkvolk aus dem Gebiet der heutigen Mongolei. In ihrer autonomen Republik stellen sie allerdings nur ein Drittel der Bevölkerung, die Mehrheit sind Russen und Tataren.

Die Hauptstadt hat gut eine Million Einwohner und ist eingezwängt zwischen den Flüssen Belaya und Ufa, die Stadt zieht sich über 30 Kilometer in die Länge. Hier bin ich bei Nuriya angemeldet, einem Mitglied der weltweiten Warm-Showers-Gemeinde. Das Prinzip des Verbundes ist das gleiche wie beim bekannteren "Couch Surfing": Jedes Mitglied bietet bei sich zu Hause einen oder mehrere Übernachtungsplätze an, wer gerade selbst auf Reisen ist, darf im Gegenzug bei anderen Mitgliedern um Unterkunft bitten. Für mich ist es das erste Mal, dass ich Warm Showers als Gast nutze.

In den gleichförmigen Betonblocks einer russischen Großstadt eine bestimmte Wohnung ausfindig zu machen, ist für den Neuling eine Herausforderung. Wenn man den Wohnblock gefunden hat, sucht man weiter nach dem richtigen Blockabschnitt, was wegen verwitterter Markierungen bedeuten kann, dass man sich durchfragen muss. Schließlich steht man unten am Eingang wie vor einem Panzerschrank, vor einer glaslosen Tür aus schweren Metallplatten. Namensschilder gibt es nicht, auch keine einzige Klingel. Dafür aber neben der Tür ein Tastaturfeld, ähnlich dem eines öffentlichen Telefons. Man gibt die Nummer des Appartements ein und - auch das muss man erst einmal wissen - drückt dann noch das "B".

Haustür

Nuriyas Stimme klingt aus dem Lautsprecher, kurz danach ertönt der Summton des Türöffners. Im dritten Stock stehe ich noch einmal vor einer Tresortür. Dahinter verbirgt sich Nuriyas Einzimmerwohnung. Ihr Fahrrad, das im engen Flur geparkt ist, wandert auf den Balkon, meines steht jetzt im Flur. Mischa, ihr Sohn, schiebt seine Spielsachen zusammen, um Platz für meine Packtaschen zu schaffen.

Im Zimmer lehnt auch noch ein großer Rucksack an der Wand. Er gehört dem Russen Alexandre, der sich über Couch Surfing bei Nuriya gemeldet hat und gerade einen Stadtrundgang macht. Abends sitzen wir zusammen und plaudern. Solange Nuriya dabei ist, sprechen wir Englisch. Mit Alexandre allein kann ich mich auf Deutsch unterhalten. Er wohnt seit 18 Jahren in Berlin und arbeitet als freier Journalist, unter anderem für GEO. Eines seiner aktuellen Projekte - auf mehrere Jahre ausgedehnt - ist der Besuch aller autonomen Republiken der Ex-Sowjetunion. Insgesamt 20 solche Republiken gibt es zwischen dem Kaukasus und der Beringstraße.

Wohnungstür

Nuriya hat Medizin studiert, arbeitet aber seit der Trennung von ihrem Mann ebenfalls als Journalistin. Ihr Themenschwerpunkt ist die Öl- und Gasindustrie. Damit verdiene sie doppelt soviel wie als Ärztin, sagt sie; nur so könne sie den Lebensunterhalt und die Wohnung überhaupt bezahlen.

Mischa schläft in dieser Nacht auf der Matratze neben Nuriya, Alexandre auf dem Sofa, ich ziehe mich mit meiner Schlafmatte in die winzige Küche zurück.

Im Uralgebirge

Auf dem weiteren Weg nach Osten wird es bergig, und damit wird auch die Landschaft abwechslungsreicher. Um Moskau herum war sie völlig flach mit endlos weiten Wiesen und Feldern. Mit der Annäherung an die Wolga bei Samara wurde es hügelig, aber der Ausblick blieb weit, solange keine Wälder die Sicht begrenzten. Das Uralgebirge mit seinen ersten Ausläufern zwingt nun die Straße in Kurven und gelegentlich auch zu Serpentinen. Ein erfrischendes Auf und Ab, viel Wald, große Seen, tiefgrüne Täler - Erinnerungen an den Schwarzwald kommen auf.

Das Städtchen Sim im Ural

Dass der Ural als Grenze zwischen Europa und Asien gilt, ist keine willkürliche Festlegung. Das Gebirge entstand vor rund 300 Millionen Jahren durch das Ineinanderschieben zweier Urkontinente. Hier, im südlichen Teil der Gebirgskette, sind die Berggipfel bis zu 1600 Meter hoch. Die Straße nach Chelyabinsk erreicht an der höchsten Stelle gut 800 Meter.

Chelyabinsk ist ein triste Industriestadt und wie Ufa etwas über eine Million Einwohner groß. Noch einmal mache ich mich zwischen monotonen Betonblöcken auf die Suche nach einem Warm-Showers-Mitglied, auf die Suche nach Anton Wahl. Da die angegebenen GPS-Daten einen Kilometer von seinem tatsächlichen Standort abweichen, brauche ich eine halbe Stunde länger als verabredet, bis ich vor seiner Panzertür stehe.

Wie sein Nachname vermuten lässt, hat Anton deutsche Vorfahren. Sein 93 Jahre alter Großvater lebte nach dem Krieg mehrere Jahrzehnte als Deutscher in Russland, wo er eine Russin heiratete. Inzwischen ist er nach Frankfurt zurückgekehrt. Ein Teil der Familie, so erzählt Anton, ist dorthin nachgezogen. Er hat aber praktisch keinen Kontakt zu diesem Zweig der Familie. Er wird die Verwandten auch nicht besuchen, wenn er demnächst für zwei Monate durch Mittel- und Nordeuropa radelt.

Anton Wahl aus Chelyabinsk

Als im Februar dieses Jahres ein großer Meteorit über Russland niederging und die Medien ausführlich berichteten, war das für mich 'irgendwo in Russland'. Irgendwo in diesem unfassbar großen Land, in das Deutschland fast 50-mal hineinpasst. Heute erfahre ich, dass der Meteorit quasi über Antons Kopf hinweg geflogen ist.

Er hatte in seiner Wohnung gerade mit dem Rücken zum Fenster gestanden, als plötzlich die Blitze kamen, drei hintereinander. Danach hat aus dem Fenster geschaut, um zu sehen, was denn dort vor sich geht. Glücklicherweise nicht zu lange. Denn zwei Minuten später kam mit dem Donner auch die Druckwelle, die Abertausende von Scheiben in der Region Chelyabinsk hat bersten lassen. Schnittwunden waren die häufigsten Verletzungen, die der Meteorit verursacht hat. 1500 Menschen mussten ärztlich behandelt werden.

Mein Meteorit (daneben für den Größenbergleich der Glückspfennig, den mir mein Freund Burkhard mit auf den Weg gegeben hat).

Die meisten Einzelteile des explodierten Meteoriten fielen in den Chebarkul-See 80 Kilometer westlich von Chelyabinsk. Aus der Größe des Loches in der Eisdecke und nach Auswertung vieler weiterer Daten schlossen Wissenschaftler auf die Dimensionen des Meteoriten vor der Explosion: Er hatte vermutlich einen Durchmesser von 20 Metern und ein Gewicht von 10.000 Tonnen. Ein paar Gramm davon hat Anton gefunden, ein Gramm hat er mir geschenkt.

Bei unserer ausgedehnten Stadtrundfahrt durch Chelyabinsk lerne ich von ihm endlich auch die wichtigsten Regeln, die offiziell für Fahrradfahrer in Russland gelten:

  • man darf sich als Radfahrer nur auf der rechten Spur bewegen
  • daher ist nur Rechtsabbiegen erlaubt
  • wenn man links abbiegen will, muss man rechts ranfahren, absteigen und als Fußgänger die Straße überqueren

Ich hätte es vorher wissen können: Genau so hatte sich nämlich Anton aus Wladimir immer verhalten. Aber ich hatte das als übertrieben und übervorsichtig abgetan. Nach 3600 Kilometern durch Russland kenne ich mich nun also aus. Und habe noch 150 Kilometer, um die Regeln auch zu praktizieren.

Der letzte Ort in Russland, das Städtchen Troitsk, ist wesentlich entspannter, als ich es mir vorgestellt hatte. Grenzorte haben oft eine unangenehme Atmosphäre. Kleinkriminalität liegt in der Luft, finstere Charaktere nutzen Lücken an der Schnittstelle unterschiedlicher Rechtssysteme. Aber hier, in Troitzk, spürt man überhaupt nicht, dass ein Grenzübergang bevorsteht. Es gibt auch keine Ansammlung von Lastwagen, kein hektisches Treiben von Händlern - Troitsk ist eine ganz normale russische Kleinstadt.

Typisch für die russischen Dörfer sind die bunten, manchmal windschiefen Holzhäuser.

Ich verlasse den Ort auf der Nebenroute, die erst weiter südlich wieder mit der Hauptstraße zusammentrifft. Plötzlich wird es still. Sehr still, geradezu unheimlich. Kein Auto ist hier unterwegs, kein Mensch. Die Straße führt an einer heruntergekommenen Stromfabrik vorbei, die offenbar längst aus dem Betrieb genommen worden ist. Dann geht die eben noch gute Asphaltstraße in eine Schotterpiste über. Ein großes Schild am Wegrand warnt: Grenzgebiet! Haben Sie Ihren Pass dabei! -- Aber keine Grenzstation ist zu sehen.

Die Schotterpiste zieht sich kilometerlang dahin, führt durch eine Senke, überquert eine eingleisige Bahnlinie. Bin ich überhaupt noch in Russland? Auf meiner GPS-Landkarte ist das leider nicht zu erkennen. Ich fürchte nun langsam, über die grüne Grenze zu geraten. Das würde in einem Land wie Kasachstan wohl äußerst unangenehm, wenn man von der falschen Seite an die Grenzstation kommt, um sich den Einreisestempel abzuholen.

Einige Kilometer weiter stößt die Piste auf die Hauptstraße. Und ich bin ziemlich erleichtert: Der Grenzposten liegt noch vor mir, in Sichtweite.

Der blonde Russe am Schalter spricht kein Englisch, aber er lässt mich kurz aufhorchen, als er sagt: "Visum kaputt". Er spricht eigentlich auch kein Deutsch, aber das Wort "kaputt" kennt jeder Russe. Normalerweise allerdings im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals war nämlich "CHitler kaputt".

Was ist nicht in Ordnung mit meinem Visum?, frage ich den Mann hinter der Glasscheibe - ohne etwas zu sagen, nur mit leicht erschrockenem Gesicht. Aber "Visum kaputt" war keine Feststellung, sondern eher als eine Frage gemeint: Soll ich Sie wirklich ausstempeln? Sie können dann nicht mehr zurück. - Ja, ich weiß, so sind die Regeln.

Die Beamten auf der kasachischen Seite haben alle eine sehr asiatische Erscheinung: runde, flache Gesichter mit schmalen Augen, schwarzes Haar. Es ist, als wäre ich innerhalb von fünf Minuten von Hamburg in die Mongolei geflogen.

Astana, die junge Hauptstadt Kasachstans.

In Kostanay, der ersten Stadt 200 Kilometer nach der Einreise, bekomme ich bei der Migrationspolizei nur eine vorläufige Registrierung (wie in Russland muss man sich auch in Kasachstan in den ersten Tagen behördlich melden). Die endgültige Registrierung müsse ich in der Hauptstadt machen, erklären mir zwei freundliche Damen.

Also eile ich weiter ins 700 Kilometer entfernte Astana. Dort wundern sie sich im Migrationsamt, was ich denn bei ihnen will - man habe mich doch in Kostanay schon registriert.

Hoffentlich gibt's da nicht noch wieder eine andere Auslegung der Bestimmungen, wenn ich in ein paar Wochen aus Kasachstan ausreisen will.

 
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