(Indien)
29.12.2013 - Bangalore / Indien (16573 km)
Nach dem Spektakel der indisch-pakistanischen Grenzschließungszeremonie (siehe letzten Bericht) habe ich noch eine Nacht auf der pakistanischen Seite verbracht. Ich hatte mir die Vorführung von Westen aus anschauen wollen, um nicht gegen die Sonne blicken und fotografieren zu müssen. Und nach dieser Komödie waren die Tore ja geschlossen.
Am nächsten Morgen ist es nur ein kurzer Ritt auf schnurgerader Straße 30 Kilometer bis nach Amritsar. Der Verkehr wird immer dichter und hektischer, ständig begegnen mir Geisterfahrer - Mopeds, Rikschas und auch Autos - auf meiner linken Seite. Als ich das Zentrum erreicht habe, ist mir klar: Ein Unfall in Indien ist nur eine Frage der Zeit. Bei drei bis vier Monaten, die ich im Land verbringen werde, kann es gar nicht anderes kommen.
Allein in den zwei Tagen zwischen Islamabad und der Grenze hatte ich im ebenso dicht besiedelten pakistanischen Tiefland drei Feindberührungen. Zweimal waren es Motorräder, die zwischen mir und einem weiteren überholenden Motorrad hindurchhuschen wollten. Beim dritten Mal war sicherlich auch ich Schuld: zu schneller Schwenk an den Straßenrand. Gerade eben waren noch 60 Zentimeter zwischen mir und der hohen Bordsteinkante frei, eine Lücke, durch die ein Radler stoßen wollte. Jetzt machte ich diese Lücke zu. Da er keine Bremsen hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als seitlich von hinten in mich hineinzurollen.
Das war in Pakistan. Hier in Amritsar wirkt alles noch eine Stufe chaotischer. Wie lange wird das gutgehen?
Der Goldene Tempel in Amritsar
In Amritsar muss ich mich erst einmal orientieren. Plötzlich gibt es wieder verschiedene Wege, unter denen ich wählen kann - und muss. In den letzten Wochen war für die Reise nach Indien alles vorgegeben. Die Route über Afghanistan kam nicht in Frage, weil alle Grenzübergänge nach Osten geschlossen sind. Es blieb nur der Weg vom kirgisischen Osh über Irkeshtam nach China, von dort - wegen der bekannten Tibet-Problematik - nur die Route über Pakistan nach Indien. Und obwohl die Grenze zwischen diesen beiden Ländern fast 3000 Kilometer lang ist, kann man als Ausländer nur an einem einzigen Grenzübergang die Seiten wechseln: an der berühmten Wagha Border zwischen Lahore und Amritsar.
Aber hier gibt es nun für den Weg in den Süden Indiens so viele Möglichkeiten. Ich könnte nach Agra fahren, zum Taj Mahal. Oder nach Jodhpur. Oder nach Jaipur, in die Rosa Stadt. Oder nach Jaisalmer ganz im Westen, wo es wüst ist. Allein durch Rajasthan könnte man wochenlang im Zickzack radeln. Oje, die Entscheidung fällt gar nicht leicht. Am Ende beschließe ich, über Jaipur, die Monolithen von Ellora, Goa und die surreale Welt von Hampi nach Bangalore zu fahren - mit den Umwegen ist das ungefähr die Strecke Erlangen-Beirut. Bangalore in Südindien war von Anfang an gesetzt, denn dort ist schon seit mehr als einem Jahr mein Besuch bei den Siemens-Kollegen angekündigt.
Die Fahrt aus Amritsar heraus wird wieder sehr hektisch. Doch südlich der Stadt beruhigt sich der Verkehr bald. Die Straße ist in gutem Zustand und relativ wenig befahren. Die Autofahrer haben die Möglichkeit, weiträumig zu überholen, und sie nutzen diese Möglichkeit netterweise auch.
Gefährlich bleiben die Ortsdurchfahrten, bei denen es zugeht, wie auf einem Ameisenhaufen. Gefährlich auch solche Abschnitte, auf denen ältere Straßen schmal und an den Rändern ausgefranst sind. Wo es eng wird, nimmt die Rücksicht der anderen schnell ab.
Aber in dem, was anfangs wie ein heilloses Chaos erscheint, erkennt man nach ein paar Tagen doch einige Regeln. Besonders wichtig ist, dass man die Fahrspur nur sehr, sehr gemächlich wechselt. Zurückschauen muss man dabei nicht, weil die Hinterleute abbremsen, wenn sie nur die Zeit dafür bekommen. Wenn sie in kritischer Nähe sind, hupen sie, um vor dem Spurwechsel zu warnen. Das ständige Hupen erleichtert wirklich alles enorm, eine große Orientierungshilfe. Du brauchst nicht nach hinten zu blicken, du hörst, was um dich herum geschieht. Akustische Positionslichter.
Von der Seite her schwenken immer wieder Autofahrer in die Straße ein, ohne auf den Verkehr zu achten. Sollte sich gerade jemand nähern, würde er ja schließlich hupen. Wer nicht hupt, muss ausweichen oder abbremsen. Der Einschwenkende nimmt dir nicht die Vorfahrt. Niemand nimmt dir die Vorfahrt - eine Vorfahrt wurde dir nie gegeben.
"Expect the unexpected" ist eine der vielen Ermahnungen, die auf Schildern am Straßenrand zu lesen sind. Man muss wirklich ständig hochkonzentriert sein. Auf einem mehrspurigen Highway kann auf einer Spur, von der du glaubst, sie gehört dir, jederzeit ein dicker Lastwagen entgegenkommen. Es gibt auch keine Warnschilder, wenn wegen Bauarbeiten vier Spuren sich zu zweien verengen. Wozu denn? Du musst ja bloß die Augen aufmachen. Man sieht es doch, dass jetzt plötzlich alle auf der einen Seite des Grünstreifens fahren!
Nach ein paar Wochen ist nahezu nichts mehr "unexpected". Trotzdem werde ich auch in Indien im ersten Monat drei Mal leicht angefahren.
Der Herr in Weiß fuhr mir von hinten her mit seinem Kleinbus ins Fahrrad rein.
Entgegen der landläufigen Vorstellung bei uns Europäern liegt Indien komplett nördlich des Äquators. Die Nulllinie berührt nicht einmal Sri Lanka, sondern verläuft sechs Breitengrade südlich des Inselstaates. Indiens Südspitze liegt auf der Breite von Addis Abeba. Die Temperaturen sind im Norden des Landes im November äußerst angenehm, etwa wie bei uns im Sommer. Mitunter sind die Straßen von schattenspendenden Bäumen gesäumt, in denen Hunderte Affen herumturnen. Auf riesigen Feldern wachsen Baumwolle und Getreide, sogar auf dem sandigen Boden Rajasthans. Traktoren beschallen über große Lautsprecherboxen, die unter dem Dach montiert sind, die Umwelt mit klassischer indischer Musik.
In Rajasthan
Indien ist ein Land der Farben und der Gerüche. Optisch ist alles erlaubt. Man darf sein Haus gern pink-gelb-leuchtgrün streichen - hier passt das einfach hin. Das Haus des Nachbarn ist ja schließlich knallorange. Die frischen, bunten Saris der Frauen sind fröhliche Tupfer in der umgebenden Natur, die aber leider wenig geachtet wird. Müllberge nicht nur am Straßenrand, sondern auch am Ufer von Seen und am Rande von Grünflächen.
Immer wieder steigt auf dem Weg durch Indien Geruch von verrottendem Müll auf. Nicht weit entfernt von einem Müllhaufen kann einem hinduistischen Tempel der süße Duft von tausend Blumenblüten entströmen. Kleinhändler brennen in ihren winzigen Verkaufsständen würzige Räucherstäbchen ab, aber wenig später fährt man einmal mehr an einem verwesenden Hund vorbei, dessen flüchtige Teile tief hinein in die Nase beißen. Wo Überlandbusse halten und Toiletten fehlen, riecht es durchdringend nach Urin - es ist mir ein Rätsel, wie die fliegenden Händler, die vom Durchgangsverkehr leben, das den ganzen Tag lang aushalten. Überholt ein Moped mit einer Frau auf dem Rücksitz, ist die Luft wieder mit angenehmen und unaufdringlichen Parfümdüften erfüllt. Die Nase durchlebt eine einzige Achterbahnfahrt.
Verblüffend: Bibi-ka-Maqbara in Aurangabad könnte man glatt mit Taj Mahal verwechseln.
An den Müll, den Lärm, den anstrengenden Straßenverkehr gewöhnt man sich mit der Zeit. Kleinere Müllhaufen am Wegrand nimmt man bald gar nicht mehr wahr. Nie aber werde ich mich mit dem Verlust meiner Privatsphäre in Indien abfinden. Wo immer ich stehenbleibe, bin ich sofort umringt von Schaulustigen, die mich betrachten wie einen Mann vom Mars. Und nichts darf ich in der Öffentlichkeit unbeobachtet tun. Ob ich Notizen mache oder die Fotos auf der Kamera sichte, sofort stellt sich hinter dem Stuhl eine Gruppe auf und schaut mir über die Schulter, um nur ja nichts von meinem Privaten zu verpassen. Alles ist öffentlich, dein gewöhnliches europäisches Leben genauso wie das eines berühmten Stars.
Als ich vor zehn Jahren von Bangladesch nach Pakistan durch den Norden Indiens fuhr, schauten mich nur diejenigen an, die zufällig da waren. Aber heute rufen sie per Handy auch noch ihre Freunde zusammen. Das tut zum Beispiel der Betreiber einer Imbisstube in der Provinz in Nohar. Ich verstehe ja nicht, was er seinen Freunden durchruft, aber ... Moment ... doch!
Doch, wenn ich genau hinschaue, erkenne ich, was er sagt:
"Seid ihr in der Nähe? Ja? Kommt schnell! Ich habe hier ein ganz witziges Tierchen sitzen! Total putzig, man kann ihm stundenlang zuschauen. Ein exotisches Kerlchen mit rosaroter Haut und einer ziemlich großen Nase. Spricht kaum, aber kommt wohl aus Europa. - Ja! Das dürft ihr euch nicht entgehen lassen! Kommt schnell, schnell, es frisst gerade!"
Nicht mehr weit nach Bangalore
Jeden Tag fühle ich mich wie ein Tier im Zoo. In keinem der rund 100 Länder, die ich bisher bereist habe, bin ich mit meinem Fahrrad so gründlich abgescannt worden wie hier in Indien. Vorbeifahrende machen Fotos und Filmclips von mir, ohne mich vorab zu fragen. Allen Ernstes habe ich schon erwogen, so etwas wie einen Schleier anzuschaffen. Kein Seidentüchlein natürlich. Irgendeinen festen Stoff, den ich mir bei Bedarf schnell über das Gesicht ziehen kann. Sehr gut verstehe inzwischen, warum vielen Frauen ein Schleier gar nicht aufgezwungen werden muss.
Auf der Straße wiederholt sich das immer gleiche Szenario täglich zigmal: Moped mit zwei oder drei Mann Besatzung überholt, die Mannschaft stutzt, der Fahrer fährt links ran. Sie lassen sich von mir überholen, starten sofort wieder und verfolgen mich in meinem Tempo. Nachdem sie die Rückansicht ausgiebig studiert haben, fahren sie neben mir her und schauen mich und das Fahrrad von der Seite an. Manchmal schauen sie nur, und schauen, und schauen - und fahren dann weiter. Meistens stellen sie aber nach einer Weile eine Frage. Auf Punjabi oder Hindi. Ich antworte auf Deutsch: "Ich verstehe nix." Sie sind irritiert und wiederholen die Frage. Ich wiederhole meine drei Worte. Das geht mehrmals so hin und her, bis sie entweder frustriert weiterziehen oder ihre Frage plötzlich doch auf Englisch stellen. Im Kasernenton: "What is your country!!!?" oder "What is your name!!!?" oder "Where are you going!!!?"
"Hallo" oder "Guten Tag" wäre zur Einleitung ja auch nicht schlecht. Aber es gleicht einem Verhör, wie auf dem Polizeirevier.
Nach einem spontanen Zeitungs-Interview mit anschließender Ehrung in Nippani begleiteten mich einige der 100 Schaulustigen noch bis zum Ortsausgang.
In den ersten Tagen antworte ich brav. Sage 50 bis 100 Mal täglich "From Germany" und "Peter". Aber dann werde ich müde. Entwickele eine abweisende Haltung, versuche manchmal auch, die Männer zu einer gewissen Höflichkeit zu erziehen, indem ich ihren Fragen mit einem lauten "Good morning! -- How are you?" begegne. Dann kommt üblicherweise ein verschüchtertes "Good morning!" zurück. Und nach fast zwei Sekunden Stille: "What is your country!!!?"
Manchmal blicke ich einfach nur starr zurück, wenn sie mich starr begutachten. Nicht selten beginnen sie daraufhin zu lächeln, freundlich und ehrlich. Entwaffnend. Das ist gemein! Ich will mich doch gerade ärgern - und ihr macht nun alles kaputt. Jetzt haben sie ihren Erziehungsauftrag erfüllt: Junge, schau nicht so verbissen! Das Leben ist schön, wir haben Frieden, die Sonne scheint, es gibt genug zu essen!
Ja, das ist wahr. Es gibt doch auch so viel Angenehmes in diesem anstrengenden Land. Kulinarisch bietet Indien ein Feuerwerk; man kann hier problemlos zum Vegetarier werden, weil die Vielfalt so groß ist und die Gewürze so raffiniert kombiniert sind. Dazu die frischen Brotfladen, die an den Innenwänden der Kugelöfen klebend durchgebacken werden und nur Sekunden später dampfend auf deinem Teller landen.
Monolithischer Tempel in Ellora - nichts ist "gebaut", alles entstand allein durch Wegmeißeln.
Und so neugierig die Menschen auch sind, so ehrlich sind sie. Keine Versuche, beim Wechselgeld zu schummeln. Auch kann man sich bedenkenlos in die Garküche am Straßenrand setzen und ohne vorherige Fixierung des Preises seine Bestellung aufgeben. Fast ausnahmslos wird der Wirt am Ende den regulären Preis verlangen - undenkbar wäre das beispielweise in Vietnam.
Auch um die Sicherheit von Fahrrad und Gepäck mache ich mir hier keine Sorgen. Ihre Neugier zwingt die Inder zwar, alles genau zu begutachten und zu betasten, aber den Versuch, etwas zu nehmen, gab es bisher noch nicht.
Und außerdem ist da das reiche kulturelle Erbe dieses riesigen Landes, des siebtgrößten der Erde. 24 Stätten finden sich auf der Liste des Weltkulturerbes wieder, darunter Ellora.
Nachdem ich 1997 in Äthiopien die monolithischen Felsenkirchen von Lalibela für mich entdeckt hatte, traf ich andere Touristen, die erzählten, dass es etwas Ähnliches noch einmal auf der Welt gebe - in Indien. Das wollte ich nicht wahrhaben. Lalibela war für mich das Achte Weltwunder. Einzigartig! Aus dem blanken Fels einen zwölf Meter hohen Monolith freizuschlagen, um den dann auszuhöhlen und zu einem Heiligtum mit inneren Säulen, Bögen, einem Altar und mit Skulpturen auszuarbeiten - auf solch eine Idee konnte die Welt doch nicht zweimal kommen.
Diese Reisenden, die mir meine Euphorie zu nehmen drohten, hatten in Indien bestimmt so etwas gesehen, wie es auch das jordanische Petra bietet: fein aus dem Fels herausgearbeitete Fassaden, pompöse Eingänge zu dann aber eher plumpen Höhlen. Sicherlich eindrucksvoll, jedoch nicht so aberwitzig wie ein monolithisches Gebäude, senkrecht freigestellt aus der Tiefe eines Felsplateaus.
Aber doch, sie hatten den großen Bruder von Lalibela gesehen.
Den Kailasa-Tempel, den größten monolithischen Gebäudekomplex unseres Planeten.
Der Kailasa-Tempel - ein Monolith
Wenn du nach Ellora kommst, 300 Kilometer östlich von Mumbai, dann schau' dir nicht als erstes diesen Kailasa-Tempel an, auf den der Haupteingang des großen Areals direkt zuführt. Die 33 anderen monolithischen Tempel, hauptsächlich Höhlen, fallen danach leider nur noch ab, obwohl sie durch ihre Ausmaße und durch die Feinheit der gemeißelten Details ebenfalls äußerst beeindruckend sind. Ellora bietet eine derartige Inflation von Handwerkskunst, dass man am Ende des Besichtigungstages müde an denjenigen monolithischen Werken vorbeigeht, die nicht von außen schon gewisse Reize setzen.
Der Kailasa-Tempel ist das unumstrittene Meisterstück in Ellora. Eine Tempelanlage von 90 mal 60 Metern Grundfläche - nur etwas kleiner als ein Fußballfeld - und mit dem Turm auf der Ostseite 30 Meter hoch. Aus dem Fels herausgeschlagen und ausgehöhlt vor mehr als 1200 Jahren. Experten schätzen, dass 200.000 Tonnen Gestein weggemeißelt wurden, wobei natürlich sorgfältigst darauf zu achten war, dass der Fels dort stehenbleibt, wo man ihn für die Ausgestaltung des Tempels noch brauchte, beispielsweise für die vier Löwen auf dem Dach der Vorhalle zum Sanktum. Im Hof stehen zwei riesige Elefanten und zwei 16 Meter hohe Siegessäulen. Man sitzt da und staunt und muss es sich immer wieder ins Bewusstsein rufen: alles - alles nur ein Stein.
Der Kailasa-Tempel
Kailasa gewinnt im Größenvergleich. Und trotzdem bleibt Bet Giorgis in Äthiopien, dem Star der elf Felsenkirchen von Lalibela, ein Alleinstellungsmerkmal: Die St. Georgs-Kirche steht buchstäblich im Loch eines Felsplateaus, in das man hinabsteigen muss. Der Kailasa-Tempel ist aus schrägem Fels herausgearbeitet und daher ebenerdig zugänglich. Nicht gar so verrückt also in der Idee.
Das aber nur zur Ehrenrettung von Lalibela.