In Ecua-dor kein Äqua-tor ...

... und auch kein Vulkan (Ecuador / Nordperu)

5.8.2015 - Chaclacayo (48199 km)

Mit der Ausreise aus Kolumbien bin ich in ein kleines Loch gefallen. Oder ... eigentlich ... eher in ein mittelgroßes Loch. Ich fühle mich plötzlich müde, reisemüde.

Die prekäre Sicherheitslage im Süden Kolumbiens, wo die FARC-Rebellen ihre Aktivitäten wieder aufgenommen haben, hat in mir zu einer solchen Anspannung geführt, dass es danach, jenseits der Grenze in Ecuador, plötzlich leer wurde. Es ist eigenartig: Eigentlich müsste ich Erleichterung empfinden, aber stattdessen hat sich so etwas wie Langeweile eingestellt. Wegen der ungewissen Lage in Südkolumbien hatte ich mich außerdem ganz auf den Moment konzentriert und mir noch keine Gedanken über die weitere Reise durch Ecuador gemacht. Nun war ich dort, ziemlich plötzlich, und erst einmal orientierungslos.

Da die Grenzstadt Lago Agrio ein etwas düsterer Ort ist, fuhr ich trotzdem gleich am nächsten Morgen weiter, irgendwohin, eher zufällig Richtung Westen, Richtung Berge, Richtung Quito. Im verschlafenen Dörfchen Lumbaqui ließ ich mich für zwei Tage nieder, studierte den Reiseführer und die Mails meines südamerikaerfahrenen Freundes Markus und beschloss dann, Quito zu umgehen und stattdessen noch eine Runde durch das Amazonasbecken zu drehen. So fuhr ich wieder zurück nach Lago Agrio und von dort nach Süden.

Es war also bereits ein chaotischer Auftakt in Ecuador.

Im Amazonasbecken - die Häuser stehen zur besseren Belüftung und zum Schutz vor Wasser und Ungeziefer auf Stelzen.

Dieses Gefühl, nach einem aufregenden Reiseabschnitt in ein Loch zu fallen, ist mir nicht neu; das gab es gelegentlich auch schon auf früheren Touren. Im Herbst 1992 verließ ich Serbien, ein Land im Kriegszustand und vom Westen boykottiert, nach Griechenland. Auch damals fiel eine starke innere Anspannung ab, und auch damals waren die nächsten Wochen leer.

Ähnlich war es acht Jahre später bei der Ausreise aus Albanien, ebenfalls nach Griechenland. Albanien wurde auch im Jahr 2000 noch als sehr gefährlich dargestellt. Einerseits war ich neugierig auf das Land gewesen, andererseits hatte ich Angst. Obwohl sich dann herausstellte, dass die angebliche so große Gefahr eine typisch mitteleuropäische Fehleinschätzung war - jeder kennt nur Gerüchte und Horrorgeschichten, aber niemand war selbst schon einmal dort (und auch die elitären Herrschaften in der deutschen Botschaft in Tirana beurteilten die Lage in dem Land völlig falsch) -, war die Reise durch Albanien doch exotisch und spannend. Danach gab sich Griechenland geradezu fad und langweilig, und ich geriet wieder in eine kleine Krise, aus der mich erst die Türkei jenseits des Bosporus herausholte.

Typisch für Ecuador und Peru sind Humitas: Maisbrei wird mit weißem Käse in Maisblätter eingerollt und dann 30 Minuten lang gegart. Drei dieser Tüten (für einen US-Dollar) machen pappsatt. Für meinen Geschmack sind sie allerdings etwas zu süß.

 

 

 

 

Hier in Ecuador verspricht nun ein besonderes Ereignis Aufheiterung in der getrübten Stimmung: die Überquerung des Äquators wenige Kilometer südlich von Lago Agrio. Während dieser Reise war ich ausschließlich auf der Nordhalbkugel unseres Planeten unterwegs. Auch in Indien - denn entgegen dem verbreiteten Geografiegefühl verläuft der Äquator südlich des Subkontinents. Indien und selbst Sri Lanka liegen komplett auf der nördlichen Hemisphäre. Die erste Äquatorüberquerung auf dieser Reise wird es also erst nach 45.000 Kilometern geben, eben hier, gleich hinter Lago Agrio.

Doch dort erwartet mich nur ein weiterer Dämpfer: Es gibt kein Monument zu Ehren der Nulllinie. Auch kein Schild, nicht einmal ein Schildchen - es gibt nicht den geringsten Hinweis auf den Seitenwechsel. Gedanklich hatte ich den Fotoapparat schon in Stellung gebracht. Das Licht hätte gut gepasst, die Sonne wandert zu dieser Jahreszeit hier durch den Norden, wenige Tage nach der Sommersonnenwende sogar relativ flach. Allein: Es fehlt das Motiv.

Die Frau am Straßenrand markiert den Äquator. Wahrscheinlich steht sie aber nicht immer dort.

Mit dem GPS-Gerät kann ich immerhin feststellen, wo ich vom Sommer in den Winter wechsle. Eine Frau am Straßenrand steht offenbar genau auf dem Äquator. Das scheint ihr allerdings egal zu sein. Es ist ihr so egal, wie es dem Staate Ecuador egal ist, dass dies ein wichtiger Ort für Reiseradler ist, den man doch bitteschön markieren sollte.

Dass ich in Ecuador auch keinen einzigen Vulkan erblicke, kann ich allerdings nicht dem Staat anlasten. Es liegt an der Jahreszeit. Mein Weg ins Andenhochland führt dicht vorbei an einigen der höchsten Vulkane des Landes, auch an dem höchsten, dem Chimborazo. Am Fuß dieser Berge gibt es viele Warnschilder, die anzeigen, in welche Richtung man rennen soll, wenn der Vulkan ausbricht. Doch beim Blick nach oben sehe ich nur ... Wolken. Dichte Wolken, hinter denen sich wohl die Gipfel verbergen.

Der rund 6300 Meter über das Meer ragende Gipfel des Chimborazo ist übrigens derjenige Punkt auf der Erdoberfläche, der am weitesten entfernt vom Erdmittelpunkt liegt. Unser Planet ist durch die Rotationsfliehkraft keine exakte Kugel, sondern genaugenommen nur ein Ellipsoid. Wegen der Nähe zum Äquator ist die Distanz des Chimborazo-Gipfels zur Erdmitte gut 2000 Meter größer als die des Mount Everest-Gipfels.

Im Norden Perus muss man sich als Reiseradler wieder einmal genauere Gedanken über die Route machen, denn die Straße entlang der Küste ist überfallgefährdet. Das hatte ich bereits vor einigen Monaten in Honduras erfahren, von einem holländischen Paar, das mit dem Fahrrad aus Südamerika entgegenkam. Sie sind aus Sicherheitsgründen den langen Weg von Trujillo bis nach Máncora, etwa 600 Kilometer, mit dem Bus gefahren.

Zu Fällen von Totalverlust kommt es immer wieder in Südamerika, es passierte auch schon Radlern in Mexiko: Ein Pickup fährt vorbei und stoppt plötzlich, eventuell drängt er dich auch gleich von der Fahrbahn ab, damit nachfolgende Autofahrer den Überfall nicht erkennen. Wichtig ist daher, auf der Straße zu bleiben, am besten sogar in die Straßenmitte zu fahren - was leicht gesagt ist, wegen des Überraschungsmoments aber wohl meistens nicht möglich. Mitunter wurden Radler auch bewusst angefahren. Am Ende steigen Bewaffnete aus, werfen alles, was du hast, auf die Ladefläche und brausen davon.

In Baños, einem Kurort auf dem Weg ins ecuadorianische Hochland, treffe ich den deutschen Radler Johannes, der ebenfalls durch Peru fuhr. Er sagt, dass die Gefahr hauptsächlich auf der Straße zwischen Chiclayo und Piura besteht, weil auf diesem einsamen und rund 200 Kilometer langen Wüstenabschnitt - durch die Desierto de Sechura - wenig Verkehr herrscht. Offenbar informieren Komplizen die Räuber, wenn ein Reiseradler Chiclayo bzw. Piura verlässt.

Umfahrung eines  langen Straßentunnels in der Nähe von Baños

 

So nehme ich nach der Überquerung der Andenkette nicht den großen Grenzübergang nach Peru an der Küste (er gilt ohnehin als unangenehmster Übergang in ganz Südamerika), sondern peile Macará an, das etwas landeinwärts liegt. Das Landschaftsbild wechselt in diesen Tagen schnell. Oben in 3900 Metern war es baumlos, dann folgte die Reise durch schier endlose Bananenplantagen bei Machala, der selbsternannten "Bananenwelthauptstadt". Und nun wird es plötzlich wieder trocken, steppenartig: Dornige Büsche wachsen am Straßenrand, auch einige Flaschenbäume stehen in der Landschaft herum. Bald danach ist die Gegend um Macará wiederum sehr fruchtbar. Hier wird mit dem Wasser, das aus den Anden kommt, sogar Reis angebaut.

Der Umweg war eine gute Wahl. Dieser Grenzübergang ist absolut entspannt. Außer mir kein Reisender weit und breit, der peruanische Beamte füllt sogar für mich das Einreiseformular aus.

Reisfelder bei Macará

Kurz hinter Chulucanas fragt mich während meiner Mittagspause ein Polizist, warum ich denn hier unterwegs bin und nicht auf der Hauptroute. Ich erzähle ihm von den Überfällen, halb fragend auch. "Ja, stimmt", bestätigt er. "Gelegentlich sind dort schon Touristen überfallen worden." Er gestikuliert, dass dabei Waffen verwendet wurden. - Und hier, auf dieser Strecke? - Hier, sagt er, sei es ruhig. Den Eindruck bekomme ich in diesen zwei Tagen auch: Das Hinterland ist provinziell und unschuldig.

Bei Chiclayo stoße ich wieder auf die Panamericana und tauche zugleich ab unter den typischen Hochnebel an der peruanischen Küste. Die Welt wird trist. Die Wüste ist grau, die Häuser sind grau, und die dichte graue Nebeldecke lässt nur fahles Licht durchschimmern. Die Sonne ist nicht einmal zu erahnen. Die Menschen sind auch irgendwie grau. Sie passen sich der Stimmung an, sind vorzugsweise mürrisch, muffig, manchmal auch etwas finster.

Der Weg zurück in die Anden.

Dieser Tristesse entfliehe ich nach ein paar Hundert Kilometern durch einen weiteren Aufstieg in die Anden. Die Straße folgt dem Rio Santo von seiner Mündung bis hinauf zur Quelle in gut 4000 Metern Höhe an der Laguna Conococha. Schon wenige Kilometer von der Küste entfernt löst sich die Nebeldecke auf, die Sonne ist wieder da. Das Licht ist klar, die Menschen sind wieder freundlich. Siedlungen werden nun allerdings seltener, denn das Tal des Rio Santa wird schnell enger und bietet immer weniger Anbaufläche. Wo nicht bewässert werden kann, regiert die Wüste. Die kleinen Felder werden mit Pferden gepflügt. Bananen wachsen, Mais wächst, auch etwas Wein. Weiter und weiter rücken die Dörfer in dem engen Tal auseinander.

In dem winzigen Ort Mirador gibt sich am nächsten Tag der alte Jorge in seinem eigentlich geschlossenen Mini-Restaurant alle Mühe, etwas Essbares zu servieren. Er findet schließlich in einer zerrissenen Plastiktüte eine Handvoll halbzerbröselte Galletas, Salzgebäck. Dann fällt ihm ein, dass er noch weißen Käse im Kühlschrank hat. Ein Fläschchen Inca Kola macht sein Menü perfekt.

Jorge mit der Adresse des "anderen Deutschen"

 

 

 

 

 

 

 

 

Noch etwas fällt Jorge ein, während ich esse: Vor ein paar Tagen ist ein "anderer Deutscher" auf der Schotterpiste hier vorbeigekommen. Jorge hat sogar dessen Adresse. Klar, was gleich kommt: die Frage, ob ich ihn nicht kenne. Weil ja im fernen kleinen Alemania jeder jeden kennt... Der alte Mann bringt sein Notizbuch herbei. Und ich erschrecke, als ich die Postleitzahl sehe und dann den Namen der Stadt. Wir könnten uns wirklich kennen - der andere Deutsche wohnt auch in Erlangen!

Es geht weiter hinauf auf steiniger Piste durch enge Schluchten und viele grob gehauene Tunnel. Und schließlich zwängt sich an der engsten Stelle der Rio Santa durch den spektakulären Cañon del Pato, durch die Entenschlucht. Danach wird das Tal wieder weit. Die Straße führt vorbei an Perus höchsten Bergen, die sich in der Cordillera Blanca gruppieren, einem gewaltigen Bergmassiv, das mit über zwanzig 6000ern als das zweitgrößte nach dem Himalaya gilt. Ein schneebedeckter Gipfel reiht sich hier an den anderen.

Die Luft ist raus!

Cañon del Pato, die Entenschlucht ...

... und dann die majestätischen 6000er der Cordillera Blanca.

Inzwischen wieder mit Asphalt unter den Reifen. Das hat den großen Vorteil, dass die Augen nicht an einer steinigen Piste kleben müssen, sondern man die Landschaft genießen kann.

Mittagspause im Andendörfchen Conococha - wieder mit weißem Käse und Inca Kola.

 

 

 

 

Mehrere Tage bin ich in Höhen zwischen 3000 und 4000 Metern unterwegs. Die Luft ist dünn, das spüre ich besonders in den kalten Morgenstunden. Aber ich habe keine Bewusstseinsstörungen wie vor 13 Jahren bei meinem ersten Aufstieg in die Anden in Bolivien. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich in den letzten Wochen schon mehrmals auf über 3000 Meter geklettert bin.

Das Dorf Conococha liegt über der tiefblauen Laguna Conococha in 4100 Metern Höhe. Ein Ort mit 50 oder 100 Einwohnern, die zu einem guten Teil vom Durchgangsverkehr leben. Ein kleines Restaurant am anderen, an jeder Tür wird Schafskäse verkauft - offenbar das Hauptprodukt in dieser kahlen Hochebene. Hinter Conococha rolle ich 70 Kilometer ununterbrochen bergab und komme noch am gleichen Tag an der Küste an.

Zurück an der Küste - zurück unter der Nebeldecke.

Nun sind es nur noch 200 Kilometer bis nach Lima. Dort wohnt seit einigen Jahren Julia, eine Bekannte aus Erlangen - was ich erst vor wenigen Wochen zufällig erfahren habe.

Fast wäre ich an ihr vorbeigefahren.

 
nächster Bericht "Wüste ohne Himmel"
vorheriger Bericht "Zona Roja"

Maks

Maks