Festgefahren im Paradies

(Chile)

4.12.2015 - Segundo Corral (54206 km)

Der Kuckuck ruft zehn Mal. Das Türchen klappt wieder zu, und nur noch das Ticken der Uhr ist zu hören. Nichts vom Straßenlärm Santiago de Chiles. Der lärmt 24 Stockwerke tiefer. Ich bin für ein paar Tage bei Pedro zu Besuch. Seine Mutter und sein deutscher Stiefvater (daher die Schwarzwalduhr) sind im Urlaub in Argentinien, wir haben ihr riesiges Apartment im Stadtteil Las Condes für uns allein. Mein Reich ist ein eigenes großes Zimmer, der Blick fällt hinaus auf die verschneiten Andenberge im Osten Santiagos und auf den Torre Gran Costanera, mit 300 Metern Höhe das höchste Gebäude Südamerikas.

Pedro habe ich 2012 während meiner "Tour de Sponsors" kennengelernt. Auf der Rundreise durch Deutschland stellte ich mich bei den Sponsoren vor, die mich bis dahin noch nicht persönlich kannten. Pedro arbeitete in Tübingen bei der Firma Schmidt, die die weltbekannten Nabendynamos der Modellreihe SON herstellt. Er sagte damals: "Melde Dich, wenn Du dann in Chile bist. Entweder bin ich selbst da, sonst kannst Du aber auch bei meinen Verwandten vorbeischauen."

Inzwischen hat es Pedro nach Chile zurückgezogen. Er hat eine lange Reisehistorie hinter sich. Bevor er 2004 nach Deutschland kam, ist er in Südamerika herumgetingelt, hat Musik auf der Straße und in Restaurants gemacht. Freunde von ihm sagten, er solle doch nach Deutschland kommen, dort sei es auch sehr schön. Das wollte er anfangs nicht. Aus Medienberichten hatte er den Eindruck bekommen, dass man als Ausländer da schnell mal zusammengeschlagen wird. Am Ende wagte er den Schritt doch und hatte acht abwechslungsreiche Jahre in Deutschland.

Per Paketpost und Direktkurier habe ich in Santiago Nachschub aus Deutschland erhalten. (Vielen Dank an Christine & Thomas / Weißenburg [sie mussten bei der Aufgabe des Paketes solch gängige Worte wie "Speichennippel" ins Spanische übersetzen - an eine spanische Deklaration der Teile hatte ich im Vorfeld leider nicht gedacht - 'tschuldigung!], vielen Dank an Helke & Jörn / Nürnberg und an Monica Vicar / Santiago!) So kommen hier unter anderem ein paar Fläschchen Rohlofföl an, Moosgummischläuche für den Lenker, extralange Speichennippel, ein Stapel Reise-Know-How-Landkarten für die bevorstehenden Länder in Südamerika und im südlichen Afrika, auch zwei neue Schwalbe-Reifen. Nun brauche ich bis zur Rückkehr nach Deutschland wohl nur noch ein weiteres Set, denn die Reifen halten 20.000 bis 30.000 Kilometer. Was jetzt noch fehlt und hier in Santiago aufzutreiben sein sollte, sind zwei neue Felgen und ein Tretlager.

Die Silhouette des 300 Meter hohen Torre Gran Costanera im Abendlicht

Die Geschichte des Tretlagers ist eine Never Ending Story. (Die Nichtradler unter Euch sollten die nächsten Absätze besser überspringen.) Ich hatte das originale Tretlager des Patria-Rades vor dem Start gegen eines mit Vierkantaufnahme auswechseln lassen, da dieses System weltweit verbreiteter ist. Das neue Lager war ein sauteures von edco (ca. 100 Euro), mit auswechselbaren Industrielagern, was ein großer Vorteil zu sein schien. Doch nach gerade einmal 4500 Kilometern waren diese Lager vollkommen ausgeschlagen. Weil sich das Gehäuse nicht öffnen ließ, musste ich in Russland ein 8-Euro-No-Name-Lager einbauen - etwas anderes war in der russischen Provinz nicht aufzutreiben.

Eine kasachische Arbeitskollegin brachte unterdessen ein neues edco-Tretlager nach Astana, das ich einige Wochen später dort abholte. Wegen des extrem hohen Preises war ich sicher, dass es sich bei dem ersten Exemplar um eine Montagsanfertigung gehandelt hatte, die Schweizer Firma bekam also eine zweite Chance. Inzwischen habe ich allerdings den Verdacht, dass bei edco jeder Tag ein Montag ist.

Pedro in Santiago

Das neue Lager kam in Tashkent zum Einsatz, nachdem das russische 8-Euro-Teil nach 6000 Kilometern aufgegeben hatte. Große Enttäuschung dann in Shanghai. Sten, ein Erlanger Reiseradler, fragte gerade per Mail nach, was denn mein edco mache. Er hätte Probleme mit seinem. "Bei mir ist alles in Ordnung", wollte ich gleich antworten. Vorher ging aber doch noch zu meinem Fahrrad, um die Festigkeit des Lagers zu prüfen. Und siehe da: Es war schon wieder lose. Auch das zweite edco hatte nur 15.000 Kilometer durchgehalten.

Zwischenbemerkung: Auf meiner ersten Weltumradlung hielt ein Shimano-XT-Tretlager die gesamten 71.000 Kilometer aus.

Gleich nach der Ankunft mit dem Schiff in Kanada ließ ich das Tretlager in Prince Rupert auswechseln, denn es lag ein langer, einsamer Wegabschnitt vor mir. Wieder war das Lagergehäuse nicht zu öffnen. Aber man konnte fühlen und hören, dass die Industrielager völlig trocken und korrodiert waren. Offenbar ein Systemfehler bei edco: Man kann das Tretlager grundsätzlich zwar zerlegen, aber dafür ist es viel zu schlecht gedichtet - es verrottet innerhalb kurzer Zeit und lässt sich dann eben nicht mehr zerlegen.

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Bei einem saublöden Sturz kurz vor Santiago habe ich mir eine blutige Nase und eine dicke Lippe geholt. An diesem Tag steigert sich die allgemeine chilenische Hilfsbereitschaft um das Dreifache. Man erschrickt bei dem Anblick, reicht mir Papiertücher, fragt, ob ich ins Krankenhaus will.

In Limache springt am Abend ein Mann in sein Auto, um mich zur einzigen Residencial im Ort zu eskortieren, zu einer einfachen Unterkunft. Und dort überlässt mir Mario Karbil, ein chilenischer Jude, ein Zimmer kostenlos. Auch er ist bei meinem Anblick erschrocken, bringt reinen Alkohol zum Abtupfen herbei, fragt ebenfalls, ob er mich nicht ins Krankenhaus fahren soll. - Nein danke, aufs Krankenhaus habe ich keine Lust. Die Nase scheint auch nicht gebrochen zu sein. Es sieht wohl schlimmer aus, als es ist.

 

 Mario Karbil im Garten seiner Residencial


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Omar, der Mechaniker im abgelegenen Prince Rupert, baute das beste Tretlager ein, das er vorrätig hatte, ein Mittelklassemodell von Shimano. Der Mann aus Belize machte einen kompetenten Eindruck, aber seiner Prognose, dass ich mit diesem Tretlager bis nach Hause kommen würde, mochte ich schon damals nicht folgen. Wahrscheinlich war ihm nicht klar, dass noch rund 60.000 Kilometer vor mir lagen.

Immerhin schaffte es 25.000 Kilometer. Am Titicacasee stellte ich wieder Lagerspiel fest, rettete mich aber noch 1500 Kilometer bis nach Antofagasta im Norden Chiles. Dort bekam ich leider nur sehr billigen Ersatz, man vertröstete mich auf Santiago de Chile.

Mit Pedro klappere ich nun die Fahrradgeschäfte der Hauptstadt ab. Die edlen Läden im noblen Stadtteil Las Condes haben gute Felgen, jedoch nur für Räder mit Scheibenbremsen (also Felgen mit schmalen Flanken, die nicht für Felgenbremsen geeignet sind). Und die Tretlager, die sie anbieten, sind alle mit der neueren Aufnahme ausgestattet, nicht mit dem Vierkant. Las Condes ist in gewisser Weise zu modern für mein konventionelles Stahlross.

Die in vielen größeren Städten vertretene Kette Oxford dürfte in Chile die beste Anlaufadresse für Reiseradler sein.

In den billigeren Läden im Stadtzentrum haben sie zwar passende Felgen, aber sie sind minderwertig. Die Tretlager, die wir finden, sind nicht besser als meines aus Antofagasta. Nachdem Pedro und ich einen ganzen Tag durch nahezu alle Fahrradläden Santiagos gelaufen sind, werden wir abends in einer Filiale der Kette "Oxford" doch noch fündig: Sie haben eine "Alexrims DM24" - für Felgenbremsen und mit passendem Durchmesser und passender Lochzahl. Vorher waren wir zweimal auf das gleiche Modell gestoßen, doch die erste war eine 24-Zoll-Felge, die zweite hatte nur 32 Speichenlöcher.

Ich kaufe das einzige Exemplar, das sie haben, und lasse es für das Vorderrad einspeichen. Eine weitere Felge für das Hinterrad und ein hochwertiges Tretlager bleiben noch auf meiner Wunschliste. (Neuester Stand: Rettung naht! Ralf, ein treuer Lemlem-Fan, hat schwere Hebel in Bewegung gesetzt, die ein Big Bull-Felge und ein Shimano-Tretlager nach Argentinien hebeln werden. Ganz herzlichen Dank!)

Bevor ich in Santiago aufbreche, gibt mir Pedro noch einige Reisetipps für den weiteren Weg durch Chile: das Surferparadies Pichilemu, Villarrica und Pucon, Valdivia und Puerto Varas. Eher beiläufig erwähnt er, dass zwischen Parral und San Carlos die ehemalige "Colonia Dignidad" liegt.

Was? Die Colonia Dignidad? Die berüchtigte deutsche Siedlung?

Vierzig Jahre nachdem ich in Deutschland zum ersten Mal von der Colonia Dignidad hörte, liegt die berüchtigte Siedlung nun direkt vor mir.

Unvermittelt sitze ich zusammen mit meinen Großeltern am Mittagstisch in Hildesheim. Ein Rücksprung in die 70er Jahre. Opa Walther erzählt, was er eben aus den Radionachrichten erfahren hat. Ein gewisser Paul Schäfer, der in Deutschland strafrechtlich verfolgt worden war, sich nach Chile abgesetzt und dort die "Colonia Dignidad" gegründet hat, regiert nun diktatorisch in dieser abgeschotteten Siedlung. Etwa 300 Menschen sind ihm 1961 nach Chile gefolgt - sie bilden die "Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad", wie sie offiziell heißt (die "Gesellschaft für Wohltätigkeit und Erziehungsanstalt der Würde"). "Colonia Dignidad" war ein Kürzel, das nicht nur in den deutschen Medien, sondern auch in Chile geläufig war.

Dignidad, "Würde" - was für ein zynischer Euphemismus. Zehn Jahre nach der Gründung der Siedlung drangen die Horrorgeschichten über Paul Schäfer langsam nach Deutschland: sexueller Missbrauch von Kindern, Züchtigung Widerwilliger mit Stromschlägen, Trennung der Geschlechter, egal ob unverheiratet oder verheiratet. Die Familien wurden auseinandergerissen. Auch gab es praktisch keinen Kontakt zur chilenischen Außenwelt, kaum jemand in der Colonia sprach Spanisch. Dem chilenischen Diktator Pinochet stellte Schäfer Teile des unübersichtlichen, 30.000 Hektar großen Geländes für die Folter von Regimegegnern zur Verfügung. Viele von Paul Schäfers Greueltaten kamen erst später ans Licht. Er floh 1996, von der chilenischen Polizei verfolgt, aus der Kolonie, tauchte unter, konnte Jahre später in Argentinien verhaftet werden. 83jährig wurde er in mehreren Verfahren zu insgesamt 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Nur fünf Jahre später entzog er sich der restlichen Strafe durch einen krankheitsbedingten Tod.

In der Aufarbeitung der Colonia Dignidad-Historie werden die ersten vierzig Jahre derzeit noch schwammig als "Schwierige Jahre" beschrieben.

 

Als 15jähriger begreife ich nicht alles, was Mitte der 70er Jahre dort vorgeht, habe auch keine Vorstellung, was Chile für ein Land ist, wie es dort aussieht. Chile ist weit, weit weg - die "Colonia Dignidad" rund 13.000 Kilometer Luftlinie entfernt von Hildesheim. Aber jetzt, hier in Santiago, sind es plötzlich nur noch 400 Kilometer.

Abschied von Santiago und vom liebenswerten Pedro. Hab' vielen Dank für alles. Was für eine fantastische Unterkunft hoch über der Stadt. Die Felge hätte ich ohne dich in diesem riesengroßen Santiago auch nicht gefunden. Und ich wäre an der geheimnisvollen Colonia Dignidad vorbeigefahren. Nur der letzte Tipp war nicht so toll: Er wird mich in Patagonien für ein paar Tage in eine Sackgasse führen.

Südlich von Santiago wird es grün und grüner. Meine Route verläuft durch das Valle Central, in dem sehr viel Wein angebaut wird. Nach der langen Zeit in den Steppen- und Wüstenregionen an Perus Küste, im Hochland Boliviens und in der Atacama im Norden Chiles ist dieses üppige Grün in Chiles Mitte geradezu überwältigend. Die Welt riecht jetzt auch wieder. Eukalyptusbäume verströmen einen kräftigen Duft, und schwerer Geruch der Rapsfelder dringt satt in die Nase ein.

Je weiter ich nach Süden komme, desto mehr erinnert die Landschaft an Süddeutschland, an das Voralpenland. Sanfte grüne Hügel, weite Wiesen und Felder breiten sich aus. Ist es ein Zufall, dass Paul Schäfer und die deutschen Siedler hier ihr riesiges Landgut kauften?

Durch Googlen finde ich derweil heraus, dass die Colonia Dignidad längst schon "Villa Baviera" heißt, "Bayrisches Dorf". Das ist ganz klar ein Aufräumen mit der finsteren Vergangenheit. Zugleich klingt der neue Name amüsant. Denn die meisten Einwanderer haben mit Bayern so viel zu tun wie ein Eskimo mit einem Alphorn. Sie stammen vor allem aus dem Raum Krefeld, viele der Älteren sind im Krieg aus den heute polnischen Gebieten geflohen. Aber die Villa Baviera lebt inzwischen zu einem guten Teil vom Tourismus, und wer "deutsche Kultur" publikumswirksam präsentieren will, kommt an Maßkrug und Schweinshaxe, an Dirndl und Lederhose kaum vorbei.

Das Bayrische Dorf liegt etwas abseits der Panamericana, südöstlich des Städtchens Parral. Die letzten 20 Kilometer sind nicht asphaltiert, doch normalerweise wohl ganz passabel. Weil aber die Piste gerade erst aufgeschottert wurde, schwimmt das Fahrrad mehr Richtung Villa Baviera, als dass es fährt.

Ein Pickup überholt mich auf dieser einsamen Piste. Der Fahrer, etwa Mitte 40, stoppt und spricht mich auf Spanisch an. Da er mit seinen blonden Haaren und hellen Augen mitteleuropäisch aussieht, frage ich auf Spanisch: "Sprechen Sie auch Deutsch?" - Ja, tut er, er ist in der Colonia aufgewachsen. Der erste Außerirdische, den ich hier treffe.

Bis nach Villa Baviera brauche ich noch eine halbe Stunde. Das weitläufige Dorf wirkt wie ausgestorben. Von den rund 120 Einwohnern lässt sich zunächst niemand blicken. Einsam drehe ich auf den Erdstraßen zwischen weit auseinanderstehenden, länglichen Häusern meine Runden. Wie in einem Freilichtmuseum stehen vor einigen Gebäuden erklärende Schilder. In spanischer Sprache werden die Bäckerei, die Käserei, die Schusterei, ein kleines Kraftwerk und andere Betriebe beschrieben. "Normale" Häuser gibt es kaum - die Bewohner lebten ja, getrennt nach Geschlechtern, in Schlafsälen.

Warum haben sie sich nicht aufgelehnt gegen Paul Schäfer, nicht gegen ihre Gefangenschaft und die harten Arbeitsbedingungen protestiert? Es ist schwer nachzuvollziehen. Fromme Sprüche des Despoten und die Isolation hatten sie offenbar eingelullt. Außerdem hatte Schäfer im Laufe der Jahre ein System aus Überwachung und Bespitzelung aufgebaut, so dass ein Auflehnen für den Einzelnen riskant gewesen wäre.

Die ehemalige Schusterei

 

 

Inzwischen sind die langen Gebäude längst unterteilt in einzelne Wohnungen. Vor einer dieser Wohnungen spricht mich Herbert an. Er wurde in Hildesheim geboren, wuchs an der holländischen Grenze auf und kam Anfang der 60er Jahre als 18jähriger mit seiner Mutter hierher. Sein Vater war im Krieg gestorben.

Herbert stand also zwischen der ersten und der zweiten Generation der Colonia Dignidad, inzwischen ist er über 70. Wie nach dem Sturz eines totalitären Regimes stellte sich nach Schäfers Flucht die Frage nach den Verantwortlichen. Wusste allein Paul Schäfer von Pinochets Folterlager auf dem Gelände? Wer neben dem deutschen Despoten war für die Misshandlung von Kindern verantwortlich? Die chilenischen Gerichte verurteilten mehrere weitere Mitglieder der Colonia wegen krimineller Beihilfe zu mehrjährigen Haftstrafen. So auch den Vater von Roswitha, die hier aufwuchs und nun an der Rezeption des "Hotel Baviera" arbeitet. Von der Strafe - fünf Jahre und ein Tag - hat der 88jährige erst die Hälfte abgesessen.

Das zweitägige "Oktoberfest" steht direkt bevor.

 

In einigen jüngeren Zeitungsartikeln über Villa Baviera liest man, dass der Tourismus der letzte Strohhalm sei, an den sich die Dorfgemeinschaft heute klammert. Das stimmt so nicht. Es gibt neben dem Hotel einige kleine, eigenständige Betriebe wie etwa eine Bäckerei, eine Konditorei, eine Wurstfabrik, eine Käserei. Sie alle produzieren für den Vertrieb in der Umgebung, auch für Supermarktketten. Außerdem wird weiterhin Landwirtschaft betrieben.

Mit Herbert mache ich in seinem alten Benz einen Ausflug durch die Wälder und Rapsfelder des riesigen Areals. 30.000 Hektar - das sind immerhin 20 mal 15 Kilometer. Wir kommen unterwegs auch auf Paul Schäfer zu sprechen. Eine Weile redet Herbert noch ruhig, gerät dann aber doch in Rage: "Der hat uns doch alle nur betrogen!" Auch er will im Nachhinein nicht verstehen, wie alles so weit kommen konnte. Kurz bevor wir uns verabschieden, sagt er: "Aber jetzt - jetzt sind wir endlich glücklich."

Am Morgen bekomme ich eine kleine Führung durch die Wurstfabrik. Horst, der Chef, ist etwas über vierzig Jahre alt und ebenfalls in der Colonia Dignidad geboren. Wie fast alle hier spricht er mit norddeutschem Tonklang. Spanisch lernte er erst nach der Öffnung der Siedlung, als er auf eine chilenische Mittelschule ging.

Das jährlich größte touristische Ereignis, das "Oktoberfest", steht unmittelbar bevor. Zwei Tage lang wird das große Festzelt gut besucht sein. Schon am Abend vor dem Fassanstich füllen sich Hotel und Restaurant mit chilenischen Familien. Ich reihe mich ein und leiste mir ein Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelpüree. Dazu eine Maß von dem guten Kunstmann-Bier aus Valdivia.

Den Trubel um den Fassanstich warte ich am nächsten Tag aber nicht mehr ab und verabschiede mich schon am Morgen von denen, die ich näher kennenlernen konnte. Wurstfabrikchef Horst, in Chile geboren und aufgewachsen, norddeutsch sprechend, steht dieses Wochenende als Schuhplattler auf der Bühne. Er schickt mir am Abend noch eine SMS hinterher: Sie hatten an diesem Samstag rund 2000 Gäste.

Das freut mich wirklich sehr für Euch. Viel Glück für die Zukunft, alles Gute!

 

In Puerto Varas bin ich noch einmal zu Gast bei Pedros Verwandtschaft. Zwar komme ich ungelegen bei seiner Schwester Cecilia und deren Familie an - sie haben genau in diesen Tagen ihren großen Umzug -, aber sie nehmen sich trotzdem etwas Zeit für mich. Sehr, sehr optimistische Menschen, denen immer ein ehrliches Lächeln im Gesicht steht. Das gilt auch für die Mutter von Cecilia und Pedro, die inzwischen aus dem Argentinienurlaub zurückgekommen ist und nun beim Umzug hilft.

Osorno - ein nahezu perfekter Vulkan

Puerto Varas liegt am Lago Llanquihue. Von dort sieht man im Osten zwei markante Vulkane: das wohlgeformte Vorzeigeexemplar Osorno und den Vulkan Calbuco. Letzterer ist gerade erst im vergangenen Januar spektakulär ausgebrochen. Ohne Vorwarnung. Cecilia beschreibt mit ihren strahlenden Augen, wie sich die ganze Familie zunächst am Anblick der hohen Aschefontäne erfreut hat. Sie konnten das Spektakel von ihrer Terrasse aus beobachten. Aber dann wurden sie nachdenklich. "Hier in Chile wissen wir genau, was wir im Falle eines Erdbebens zu tun haben. Man rennt raus. Oder stellt sich in einen Türrahmen oder sucht Schutz unter einem stabilen Tisch." Aber auf einen Vulkanausbruch waren sie nicht vorbereitet. Cecilia telefonierte mit ihrer Mutter in Santiago, die einige Tipps geben konnte. Sie füllten alle Behälter, die sie hatten, mit Frischwasser, prüften ihre Taschenlampen, öffneten das elektrische Garagentor, bevor der Strom ausfallen könnte. Doch an der Tankstelle waren sie zu spät, dort hatte sich bereits eine sehr lange Schlange gebildet.

Am Ende kamen sie in Puerto Varas glimpflich davon. Der Wind wehte die Aschewolke nach Osten, ein gutes Stück hinein nach Argentinien. Die chilenische Streusiedlung Ensenada, die direkt am Fuße des Vulkans liegt, litt jedoch schwer. Unter dem Gewicht der Vulkanasche, an manchen Stellen hüfthoch, brachen sogar Hausdächer ein. (Der Begriff "Asche" ist vielleicht irreführend: Genaugenommen spuckte der Calbuco Sand und feinen Schotter aus.)

Der Vulkan Calbuco steht unschuldig da. Aber innerlich lacht er über die winzigen Menschlein, die wie Ameisen unter ihm umherlaufen. Um sie durcheinanderzubringen, muss er nur ein paar Mal trocken husten.

Vorbei an dieser grauen Asche, die an den Straßenrand gekehrt wurde, fahre ich auf einem Seitenarm der Careterra Austral Richtung Südosten. Pedro hatte mir diese Route ans Herz gelegt: Für Autos eine Sackgasse, doch zum Schluss führe sie über ein Reit- und Wanderweg nach Argentinien. Da würde ich wahrscheinlich das Rad ab und zu mal schieben müssen. Aber eine ganz tolle Variante.

Der Weg führt über Cochamó durch eine Traumlandschaft: vorbei an weiteren Vulkanen, an tiefblauen Seen, verschneiten Berggipfeln, Wasserfällen und an sauberen Flüssen entlang. Die Luft ist klar und rein - Pedro hat mich ins Paradies geschickt!

Auf der Piste sind sehr wenige Autos unterwegs. Zum Ende der Straße hin wird es immer einsamer. In Llanada Grande gibt es kein Mobilfunknetz mehr, auch kein Festnetz. Im Supermercado haben sie für wichtige Rufe ein Satellitentelefon.

Am Lago Tagua Tagua in Patagonien

Die Schotterstraße wird vom Militär gebaut, und sie nähert sich Jahr für Jahr immer weiter an das Dörfchen Segundo Corral heran. Nur rund fünf Kilometer fehlen noch. Von einem Meter auf den anderen verengt sich die Straße zu einem Waldweg von der Breite eines Autos. Wurzeln und grobe Steine bremsen mich, mitunter ist der Weg so steil, dass ich nur mit allerletzter Kraft das Fahrrad hochstemmen kann. Langsam bekomme ich Zweifel, dass der Verbindungsweg nach Argentinien mit einem bepackten Fahrrad überhaupt zu bewältigen ist.

Vor Segundo Corral verzweigt sich der Waldweg in drei schmale Fahrspuren, die alle zu Farmen führen. Niemand ist da, der Auskunft geben könnte. Dann finde ich heraus, dass der richtige Weg durch eine der Farmen hindurchführt - man öffnet die Viehgatter und schließt sie wieder hinter sich. Auch im eigentlichen Ort sehe ich niemanden. Er besteht aus etwa zehn Häusern und einer kleinen Kirche.

Einen Kilometer weiter gibt noch ein paar Gärten und Hütten und auch eine Schule. Acht Kinder aus der Umgebung werden hier unterrichtet, erklärt mir Samuel. Im weiten Umkreis leben hier nur 50 Menschen. Da sind die Leute aus Primer Corral mit eingerechnet, das zwölf Kilometer entfernt liegt. Samuel wohnt allein in einer kleinen Blockhütte. Auf seinem Grundstück neben der Schule kann ich mein Zelt aufbauen.

Die Hauptsiedlung von Segundo Corral: eine Kirche und etwa zehn Häuser

Samuel bestätigt meine Befürchtungen: Mit dem Rad rüber nach Argentinien - überhaupt keine Chance! Der 30 Kilometer lange Bergpfad sei mitunter nicht einmal einen halben Meter breit, mit einer Steilwand links und dem Abgrund rechts. Es macht nicht den Eindruck, dass er übertreibt. Ich schildere ihm die Schwierigkeiten auf den letzten Kilometern bis hierher. Er lacht verhalten: "Das ist doch eine erstklassige Straße."

Zum Glück muss ich nicht umkehren und einen Hunderte Kilometer langen Umweg fahren. Es gibt ein Boot, das flussaufwärts nach Argentinien fährt. Samuel ruft über Funk den Captain auf der anderen Seite des breiten Rio Puelo (auch hier gibt es natürlich weder Mobil- noch Festnetz), doch der meldet sich stundenlang nicht. Erst am Abend erreicht uns die Nachricht, dass er am Freitag rüberfährt, um ein paar Passagiere dort abzuholen. Heute ist Dienstag.

Samuel - ein Mapuche-Indianer

 

Hm - so schnell ändert sich die Sichtweise. Diese stille, abgelegene Gegend war für mich gerade eben noch das Paradies. Bis zu dem Moment, da ich die Freiheit verlor weiterzuziehen.

Ziemlich schlimm ist auch, dass es kein Bier im Minimercado von Segundo Corral gibt. Der Laden ist ein kleiner Nebenraum eines Hauses, dessen Besitzer man vor dem Einkaufen erst einmal suchen muss. In den Regalen finden sich Nudeln, Konserven, Kartoffelchips, Toilettenartikel. Kein Bier. Aber nicht, dass das hier ein trockenes Dorf wäre wie etwa viele abgelegene Orte in Alaska. Unzählige leere Bierdosen im Abfallkorb vor dem Minimarkt signalisieren das. Später entdecke ich bei meinen Spaziergängen einige Erdgruben mit Unmengen weiterer leerer Dosen, die wohl irgendwann gesammelt ins Recycling gehen. Und dann vor einem Farmgatter gut zehn große Getreidesäcke mit gepressten Bierdosen. Sie sind dem Alkohol hier durchaus nicht abgeneigt..

Normalerweise gibt es also Bier, sie haben nur einfach alles ausgetrunken. Man munkelt, dass in drei Tagen Nachschub über den langen, beschwerlichen Weg aus Norden kommt. Für die allerletzten Kilometer wird es in einen Karren umgeladen werden, denn Segundo Corral ist durch den Rio Puelo und einen Nebenfluss von der Straße abgeschnitten. Die kleine Brücke, auf der ich den Nebenfluss überquerte, ist gut für Gespanne, aber zu schwach für Autos.

Somit ist Segundo Corral eine Fußgängerzone ohne Motorenlärm. Ich mache kleine Spaziergänge in der Umgebung, nutze die erzwungene Pause zum Lesen und Schreiben. Die lautesten Geräusche verursachen der vorbeifließende Bach, ein paar schreiende Vögel und die blökenden Schafe, die 20 Minuten lang mein Zelt umzingeln. Am Mittag des ersten Wartetages gibt es dann allerdings doch noch ein Motorengeräusch: Ein Propellerflugzeug landet auf dem Flugfeld hinter dem Wald und hebt eine Viertelstunde später wieder ab. - Mensch, vielleicht haben die ja Bier mitgebracht! - Samuel lässt diesen Traum am Nachmittag sanft platzen: "Nein", sagt er vorsichtig, "das war nur ein Übungsflug."

Abends in Segundo Corral. Das Foto hätte ich offenbar nicht machen dürfen. Der Besitzer der Farm kommt mit seinen aggressiven Hunden einen weiten Weg herbei und ermahnt mich: Dies alles ist Mapuche-Land, Fotos sind nicht erlaubt. (Die Mapuche-Indianer sind die sehr stolzen indigenen Bewohner im südlichen Chile.)

Im Minimercado gibt es nicht nur kein Bier, sondern auch nichts Frisches. Am letzten Abend frage ich Samuel, ob jemand im Ort Käse verkauft. Könnte ja gut sein, bei den vielen Schafen hier. - "Nein, nein", antwortet er, "Käse gibt es hier nicht. Aber morgen bist du doch in Argentinien, in El Bolson. Da gibt es alles: Käse, Bier, Frauen."

Ich gehe hinauf in den Ort und kaufe im Haus Nummer 1 wieder Brot. Nicht wie gestern Brot vom Vortag, heute ist es Brot von vorgestern. Gegen 10 Uhr abends kommt Samuel zu meinem Zelt mit der Nachricht, dass er morgen mitkommt nach Argentinien. Na so eine Überraschung, prima, ich freue mich über seine Begleitung. Das muss eine spontane Entscheidung von ihm gewesen sein.

Habe ich in ihm wohl eine Sehnsucht geweckt? Nach Käse, nach Bier - und was es sonst noch so gibt? Dort drüben, gegenüber vom Paradies.

 
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