Blauer Dollar

(Argentinien)

12.1.2016 - Buenos Aires (56728 km)

Chile und Argentinien sind die beiden Länder in Südamerika, die am ehesten an Europa erinnern. Was aber gleich auf den ersten Kilometern durch Argentinien auffällt: Unglaublich viele Rostlauben sind hier auf den Straßen unterwegs. Zunächst vermute ich noch, dass es die Autos der zahllosen Hippies sind, die sich in El Bolson angesiedelt haben. Aber das Bild der Schrottkisten zieht sich durch das ganze Land hindurch. Neuwagen sind in Argentinien extrem teuer, und somit auch Gebrauchtwagen - jeder belebt sein Auto wieder, solange es nur geht.

Fährt aber!

Das Land steckt seit 2002 in einer Dauerkrise, hat eine Währung, die im Ausland niemand haben will. Lange Zeit hat man insbesondere in Buenos Aires auf großem Fuße gelebt, am Ende jedoch die Schulden beim IWF nicht mehr beglichen. Das führte zu einer Abkopplung des Pesos vom internationalen Finanzmarkt. Zuvor war der Peso mit einem festen Eins-zu-eins-Verhältnis zum Dollar vollkommen überbewertet, 2002 fiel er dann schnell auf drei zu eins. Im Laufe der Jahre bröckelte er weiter, bei meiner Einreise im Dezember 2015 ist der offizielle Kurs 9,50 Pesos für einen Dollar.

Doch die Preise im Land sind so sehr gestiegen, dass die Währung inzwischen schon wieder überbewertet ist. Ein Liter Bier würde nach dem offiziellen Kurs im Supermarkt drei Dollar kosten. Längst spiegelt der "Blue Dollar" den wirklichen Wert wider, er liegt rund 50 Prozent höher, und dieser Graumarkt-Kurs ist halboffiziell. Man kann ihn in den Zeitungen verfolgen, die Geldwechsler auf der Straße agieren offen.

Roten Wein genießen wir. Feiner Käse schmeckt uns auch. Oder ein saftiges Steak. Aber ein neues Auto - würde das auch gut schmecken?

Die Finanzwelt traut den Statistiken aus Argentinien schon lange nicht mehr. Die gerade abgewählte Regierung von Cristina Kirchner versuchte, die Inflation zu vertuschen. Durch kleine Tricks werden in Argentinien die Preise im repräsentativen Warenkorb manipuliert. So wird z.B. die Biersorte "Bajo Cero" (unter 0 Grad gefiltertes Bier) der großen Brauerei "Quilmes" subventioniert, damit die Flaschen zum halben Preis in den Regalen stehen - für knapp 15 Pesos. Damit passt der nicht unwichtige Bierpreis in der nationalen Statistik wieder. Schaut her, alles in Ordnung bei uns! Der Haken für den Verbraucher: Eine "Bajo Cero"-Flasche ist fast so selten wie eine "Blaue Mauritius".

Wegen des Weglügens der Inflation konnte sich die Regierung auch noch nicht durchringen, größere Geldnoten einzuführen. Noch immer gibt es nichts über dem 100-Peso-Schein. Vor 15 Jahren war der 100 Dollar wert, aber heute sind es - nach dem Graumarkt-Kurs - eben nur noch sieben Dollar.

Eine der verrücktesten Langzeitreisen, von denen ich je gehört habe, haben zwei Kölner mit ihren Motorräder unternommen: Claudia Metz und Klaus Schubert. Sie brachen 1982 auf, um Klaus' Schwester in Japan zu besuchen. Die beiden waren damals Anfang 20. Die Reise sollte ursprünglich ein Jahr dauern, doch es wurden schließlich unglaubliche 16 Jahre daraus. Claudia legte einige Heimaturlaube ein, Klaus war während dieser langen Zeit nicht ein einziges Mal in Deutschland.

Nach ihrer Rückkehr wurden die großen Medien auf die beiden aufmerksam. Im "Stern" beispielweise erschien ein langer Artikel mit teils doppelseitigen Bildern. Sie starteten zu einer äußerst erfolgreichen Vortragstournee durch den deutschsprachigen Raum und brachten ein Buch zu ihrer Geschichte heraus - mit dem sinnigen Titel "Abgefahren".

Der Lago Puelo bei El Bolson

Nach einigen Jahren in Deutschland wanderten Klaus und Claudia aus. Es ging das Gerücht, sie hätten in Patagonien ein Backpacker Hostel eröffnet. Schnell habe ich sie im Internet gefunden. Ihre Farm liegt in Nordpatagonien auf der argentinischen Seite, nahe El Bolson, gut 100 Kilometer südlich von Bariloche. Die Geschichte vom Hostel ist wirklich nur ein Gerücht, aber man kann bei ihnen gegen eine Minigebühr das Zelt unter schattigen Bäumen am Fluss aufschlagen.

Vielleicht wandere ich auch nach Argentinien aus. Da werd' ich dann Polizist.

 

Weil sie in den letzten Jahren viel zu viel unangemeldeten Besuch bekommen haben und längst auch schon eine vierköpfige Familie sind, bitten sie um vorherige Anmeldung. An einem für diese Gegend ungewöhnlich heißen Tag mit über 30 Grad komme ich bei ihnen an. Ein Grüppchen ihrer Schafe hat sich unter den aufgebockten Container verzogen, ihren "Umzugskarton" von vor zehn Jahren. Das kleine Wohnhaus versteckt sich auf einem Hügel im Schatten. Abends grillen wir zusammen am Fluss, unterhalten uns natürlich auch über das Reisen und über die Reisevortragsszene in Deutschland. Letzteres ist immer wieder ein ergiebiges Thema, weil es dort Klüngel, Freundschaft, Neid und Feindseligkeiten gibt (wobei sich das Klima in den letzten Jahren deutlich verbessert hat).

Das Verhältnis von Klaus zu den Veranstaltern war oft gespannt. Klaus sagt, einige Veranstalter hätten ihn um eine insgesamt sechsstellige Eurosumme betrogen. Einige Veranstalter sagen, der Erfolg sei Klaus zu Kopf gestiegen, und er habe nach den Auftritten nachgekartet. Das alles liegt weit zurück. Für sie und ihre beiden Töchter hat hier ein neues Leben begonnen.

Normalerweise wäre ich diagonal durch Argentinien Richtung Uruguay gefahren, von Bariloche aus direkt nach Nordosten. Doch da sind die Felge und das Tretlager, die Ralf in Berlin per Luftpost auf den Weg gebracht hat. Und da er einen Freund in Villa Mercedes hat, erschien es uns am besten, das Paket dorthin zu schicken. Das bedeutet, dass ich ein paar Hundert Kilometer mehr und einen rechten Winkel durch das Land fahre. Nicht weiter schlimm, und ein Vorteil ist, dass ich damit viel Zeit auf der Ruta 40 verbringe, einer Kultstraße, ähnlich wie es die Route 66 in den USA ist.

Die "Ruta Cuarenta" war unter Reiseradlern wegen ihres schlechten Zustandes immer berüchtigt. Inzwischen hat sie fast durchgehend eine Asphaltdecke. Einen kurzen Eindruck, wie es früher einmal gewesen ist, bekomme ich auf einem Abschnitt zwischen Barrancas und Malargüe, wo auf 50 Kilometern lose Kiesel das Rad schwimmen lassen, man wühlt sich mühsam über die Piste wie durch Sand.

Jetzt ist diese Kultstraße also größtenteils asphaltiert, doch einsam ist sie nach wie vor. Nördlich von Bariloche wird das Land von einem Kilometer auf den anderen sehr trocken. Die Wolken regnen sich im Westen der nun höheren Berge ab, in Chile. Und wegen der trockenen, wasserarmen Steppe liegen auf der argentinischen Seite die Siedlungen wieder weit auseinander. Der erste Ort auf meiner Route von Bariloche nach Norden ist Zapala, 370 Kilometer entfernt.

Der Weg dorthin führt streckenweise durch reizvolle Tafelberglandschaft, im Westen spitzt ab und zu der 3700 Meter hohe Vulkan Lanin über den Horizont. Gelegentlich sieht man weit abseits der Straße eine einsame Farm. Zwei charakteristische Duftnoten begleiten mich über mehrere Tage: Die eine ähnelt sehr dem Geruch einer warmgefahrenen Märklin-Lok, also dem Geruch des Schmieröls dieser Modelle. Er muss einer sehr asketischen Pflanze entströmen, denn er weht oft in den trockensten Gegenden in meine Nase. An feuchteren Orten riecht es mitunter wie auf der Toilette, nachdem man Spargel gegessen hat. Hier habe ich eine Pflanze im Verdacht, die unserer Butterblume ähnelt.

Gut 200 Kilometer hinter Zapala ist Chos Malal ein weiteres Städtchen an der Ruta 40, das seine Existenz einem Fluss verdankt. Nach der Einöde genießt man die Infrastruktur solcher Siedlungen. In der "Residencial Baalbek" steige ich ab und lerne dort Eberhard Gessler kennen, einen deutschstämmigen Argentinier, 79 Jahre alt. Er wohnt eine Fahrstunde entfernt in den Vorbergen der Anden. Einmal im Monat kommt er nach Chos Malal, um seine Rente abzuholen und bei der Gelegenheit ein oder zwei Tage hier zu verbringen.

Eberhard spricht sehr gut Deutsch, obwohl er nicht oft die Gelegenheit hat, es zu praktizieren. Um so mehr freut er sich, mich hier getroffen zu haben.

Abends in Chos Malal mit Eberhard Gessler

Der alte Mann hatte eine tragische Kindheit. Seine Eltern, beide Deutsche, lebten schon lange in Buenos Aires. Als Eberhard zwei Jahre alt war, reiste seine Mutter mit ihm nach Schlesien, wo sie ein Jahr bei den Eltern des Vaters verbringen wollten. Doch dann brach der Krieg aus, und seine Mutter wurde als Ärztin an die Front geschickt. Zum Ende des Krieges mussten sie aus Schlesien fliehen. Sie lebten zwei schwierige Jahre im Westen Deutschlands. "Während des Krieges ging es mir noch verhältnismäßig gut", sagt Eberhard, "aber in der Zeit im Lager haben wir oft gehungert. Die Amerikaner hatten ja selber nichts." Er lernte Englisch, weil er viel mit den Amerikanern sprach und auch mit ihnen verhandelte. 1947 endlich konnten sie mit einem Schiff nach Argentinien zurückkehren. Dort lernte er - als inzwischen elfjähriger Junge - seinen Vater kennen.

 

Weihnachten feiere ich in einem Hostel in San Rafael. Die Argentinier begrüßen den 25. Dezember mit einem Feuerwerk, wie wir es nur von Silvester kennen. Es wird die heißeste Weihnachtszeit meines Lebens, die Temperaturen steigen in diesen Tagen auf 40 Grad im Schatten. Damit wird die bevorstehende Etappe nach San Luis zu einer Herausforderung. Auf einem 160-Kilometer-Abschnitt gibt es wieder keine Versorgung, wegen der Hitze lade ich neun Liter Wasser auf.

Die Isla Submarino ("U-Boot-Insel") im Valle Grande-Stausee nahe San Rafael

Bis zwei Uhr mittags habe ich 120 Kilometer geschafft. Am Vormittag waren die Temperaturen noch zu ertragen, der Fahrtwind sorgte für eine gewisse Kühlung. Aber jetzt kommt der Wind aus einem offenen Backofen.

Ein Lieferwagen überholt und hält an, ein sehr freundlicher Mann um die 50 steigt aus. Juan Carlos hat zehn Jahre in Europa gelebt. Er liebt Langstreckenlauf, wie sein T-Shirt verrät, hat an vielen Wettkämpfen auf dem alten Kontinent teilgenommen, kennt sich also mit Ausdauersport aus. Wegen der Hitze ist er rührend besorgt um mich, warnt, dass es gefährlich werden könne. In der Tat fühle ich während unserer Unterhaltung auch eine leichte Benommenheit. Er gibt mir ein paar Liter Wasser, die ich gerne annehme. Bevor wir uns verabschieden, bietet er mir noch einmal an, mich in seinem Lieferwagen mitzunehmen. Sehr verlockend.

Die letzten 40 Kilometer quäle ich mich in drei Etappen bis zu dem kleinen Ort Beazley, mache dazwischen ausgelaugt halbstündige Pausen im Schatten niedriger Bäume.

Der Abend entschädigt für alle Strapazen. Mein Zelt kann ich neben einem einfachen Restaurant aufbauen, in dem sich eine altersschwache Klimaanlage abrackert, die Temperatur auf 30 Grad zu drücken. Pedro, der Besitzer, winkt mich zu seinem Tisch, an dem man den kühlen Luftstrom direkt genießen kann.

Auf den Hinweis, dass die Falkland-Inseln Argentinien gehören, stößt man im ganzen Land.

Woher ich denn komme, fragt er. - Alemania. - Er erinnert mich mit gespieltem Ernst daran, dass Argentinien das WM-Endspiel gegen Deutschland verloren hat. - Ich bitte ihn im Spaß um Entschuldigung dafür. - Nein, nein, kein Problem.

Wirkliche Probleme hat Pedro nur mit England und mit Chile. England ist ewiger Feind wegen der Falkland-Inseln (sorry: wegen der Malvinas). Beim Thema "Chile" handelt es sich mehr um eine Rivalität unter Nachbarn. Argentinien fühlte sich immer als die Nummer Eins in Südamerika, aber jetzt steht Chile wirtschaftlich unbestritten besser da.

In diesen Tagen übrigens hat die neue Regierung unter Mauricio Macri eine erste Ankündigung wahrgemacht: Die Restriktionen beim Handel mit Devisen wurden aufgehoben und damit der argentinische Peso bis fast auf den Wert des "Blue Dollar" abgewertet. Der Graumarkt ist quasi abgeschafft.

Silvester in San Luis. Dann weiter nach Villa Mercedes. Dort ist das Paket von Ralf auch nach mehr als drei Wochen noch nicht eingetroffen. Laut den Tracking-Daten hängt es schon seit zwölf Tagen im Zoll in Buenos Aires fest. Da ich bereits einige Tage in San Rafael und in San Luis abgebummelt habe, treffe ich mich in Villa Mercedes nur kurz mit Ralfs Freund, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Mein Weg soll nach einer Stippvisite in Uruguay noch einmal nach Argentinien zurückführen. Alejandro wird mir das Paket in den Norden des Landes nachsenden.

(Während ich weiterfahre, wacht der Zoll in Buenos Aires auf. Nach zwei Wochen in der Hauptstadt wird das Paket nach San Luis verfrachtet. Und dort landet es ... es ist nicht zu fassen ... im Zoll! - Ralf hat auf seiner sehr informativen Homepage ein kleines Kapitel dazu eröffnet: -> Odyssee einer Felge.)

Die Ruta 7, die Mendoza und Buenos Aires miteinander verbindet.

Auf der Ruta 40 herrschte wenig Verkehr. Manchmal kam eine halbe Stunde lang kein Auto vorbei. Nachdem ich bei San Luis auf die Ruta 7 gestoßen bin, macht sich die Nähe zu einigen größeren Städten bemerkbar: Mendoza, San Luis, Villa Mercedes. Mit der Ruhe auf den Straßen ist es jetzt vorbei. Daher bin ich ganz froh, dass die Ruta 7 autobahnähnlich ausgebaut ist und einen breiten Seitenstreifen hat. Und verschwenderischerweise ist sie durchgehend mit Straßenlaternen ausgestattet - ich träume schon davon, hier der Hitze entgehen und in die Nacht hineinradeln zu können. Doch mit dem Verlassen der Provinz San Luis verjüngt sich die vierspurige Straße abrupt, und - noch viel schlimmer - es endet auch der Seitenstreifen. Jetzt wird das Radeln einen halben Tag lang stressig, bis ich mich an die neue Situation gewöhnt habe. Wenn Autos entgegenkommen, schaue ich stets in den Rückspiegel. Solange sich nicht gleichzeitig Fahrzeuge von hinten nähern, besteht keine Gefahr.

In diesen Tagen klebt der Blick oft im Rückspiegel. Das ist lästig. Von den Reizen der Landschaft entgeht mir dadurch allerdings nicht viel: Sie ist eintönig, besteht aus Grasland, ist weit und eben. Nach Osten hin gibt es dann zwar mehr Felder, aber es bleibt weiterhin weit und eben. 1200 Kilometer von den Anden bis nach Buenos Aires - weit und eben.

Minimercado im Dörfchen Rosales

Viele Überlandstraßen durch das mittlere Argentinien verlaufen parallel zu Eisenbahnlinien, an denen es im Abstand von 20 bis 50 Kilometern kleine Ortschaften gibt. Von den Hauptstraßen sind die Dörfer und die Schienen einige Kilometer entfernt. Würde ich nicht auch während des Tages ab und zu Abstecher in diese kleinen Dörfer machen, würde ich jeden Tag nur zwei Orte sehen: den, an dem ich morgens starte, und den, an dem die Tagesetappe beendet ist. Manchmal übernachte ich im Zelt, manchmal komme ich in einer günstigen "Hospedaje" unter.

Die Dörfer sind verschlafen, viele Häuser verfallen zu Ruinen. Das war mir auch schon weiter im Westen aufgefallen: Landflucht. Hier sicherlich auch, weil die Eisenbahn immer mehr an Bedeutung verliert, einige Nebenstrecken sind schon stillgelegt. Dafür ist der Großraum Buenos Aires inzwischen auf 13 Millionen Einwohner angewachsen. Ein hässlich großer gelber Fleck auf meiner Landkarte, den ich auf dem Weg nach Uruguay weit umfahren möchte.

In Buenos Aires

 

Doch dann erkenne ich, dass die Querung des Paraná-Flusses gar nicht so einfach ist. Der Fluss bildet ein sehr breites Feuchtgebiet, das nur von wenigen Straßen über- bzw. unterquert wird. Bei Rosario führt eine ganze Kette von Brücken 70 Kilometer über das Gebiet, 200 Kilometer weiter südlich gibt es einen Tunnel. Beide Wege sind für Radler gesperrt.

Also doch nach Buenos Aires. Mir graut davor. Doch so nervenaufreibend ist die Fahrt durch die Metropole gar nicht, nicht zu vergleichen mit dem Stress in Bogotá oder in Lima. Die breiten Avenuen tragen sehr zur Entspannung bei

Und hat man dort wirklich buenos aires? Gute Luft? Passt schon - auch die könnte schlechter sein.

 
nächster Bericht "Fahrrad gestohlen"
vorheriger Bericht "Festgefahren im Paradies"

Maks

Maks