Steppe

(Kasachstan)

16.7.2013 - Almaty / Kasachstan (8542 km)

3000 Straßenkilometer auf DIN-A5-Format - so bleibt dir wenigstens das ständige Umblättern erspart  :-)

Wenn man die Landkarte auf der Lenkertasche 3000 Kilometer lang nicht wenden muss, dann ist entweder die Lenkertasche so groß wie ein Schreibtisch oder die Landkarte hat einen eher kleinen Maßstab.

Meine Lenkertasche hat Normalgröße, ungefähr die eines Schuhkartons. Ungewöhnlich ist die Landkarte. Eine Radwanderkarte sieht jedenfalls anders aus. Seit sechs Wochen fahre ich nun schon mit einem 1:10-Mio-Maßstab durch die Landschaft, ein Zentimeter auf dem Papier entspricht 100 Kilometern in der Natur. Deutschland würde bei diesem Maßstab auf eine Zigarettenschachtel passen. Aber ich bin froh, dass der Falk-Verlag auf die Rückseite seiner großen Westrusslandkarte wenigstens diese grobe Übersicht über den Osten des Landes und über die anderen Ex-Sowjetstaaten gedruckt hat. Sonst stünde ich jetzt ganz ohne Papierlandkarte da. Die Suche nach Anschlussblättern ist in den letzten Wochen erfolglos geblieben. Weder Buchläden (das sind hier in der Gegend eh nur bessere Schreibwarengeschäfte) noch Tankstellen hatten etwas im Angebot.

Im Süden Russlands, zwischen Samara und Chelyabinsk, hätte die Karte ruhig ein bisschen genauer sein dürfen. Aber in der Steppe Kasachstans reicht auch dieser Minimaßstab aus. Das Land ist so weiträumig, dass selbst kleinste Orte in der 1:10.000.000-Karte eingetragen sind, so etwa Kanshengel, ein Dörfchen mit 60 Einwohnern im Südosten des Landes.

Die beiden Mobilfunkmasten zeichnen sich schon aus 20 Kilometern Entfernung in der platten Landschaft vor dem blauen Himmel ab. Dann, langsam, werden Gebäude erkennbar. Der Ort erscheint zunächst groß, es gibt sogar einen zweistöckigen Komplex. Eine Fabrik?

Ich meine, nur noch 500 Meter vor mir zu haben, als es tatsächlich noch drei Kilometer sind. Mit der weiteren Annäherung wird das Dorf überraschenderweise wieder kleiner. Jetzt lösen sich nämlich die Gebäude voneinander ab, man kann sie abzählen. Links der Straße liegt, zwischen mehreren Baumgruppen, die eigentliche Siedlung mit den Häusern der Viehzüchter. Die Bäume allein sind in der weiten, heißen Steppe schon ein Wohltat für die Seele. Auf der rechten Seite der Straße reiht sich ein quaderförmiges "Kafe" an das andere. Etwa zehn dieser Imbissstuben gibt es hier, vor jedem Eingang steht ein Grill, auf dem Schaschlik zubereitet wird. Kanshengel ist für den Reisenden, der aus Norden kommt, die erste Versorgungsstation nach 100 Kilometern. Bis zur nächsten sind es 80 Kilometer: Kurty - natürlich auch auf meiner Landkarte vermerkt, acht Millimeter weiter im Südosten.

Die Kafes sind willkommene Abwechlung in der Eintönigkeit.

Es ist 17 Uhr und immer noch 30 Grad warm. Zwei Dörfer habe ich heute schon gesehen, 150 Kilometer in den Beinen. Noch einmal 80 Kilometer schaffe ich nicht, auch wenn die Leute hier meinen, dass es doch nicht mehr weit sei bis nach Kurty.

Es ist witzig: Auf der einen Seite bewundern sie den Radler, der sich diese ungeheure Weite antut. Sie bremsen ihr Auto ab von 120 auf 0 und bleiben mitten auf der Straße stehen, um zu fragen, woher ich denn komme, wohin ich denn will. Sie sagen: "Unglaublich!" Sie wollen sich immer wieder mit mir fotografieren lassen - das passiert so oft, dass diese Photo Shootings mich manchmal aus dem Fahrrhythmus bringen. Sie beschenken mich mit Obst, reichen mir aus dem fahrenden Auto heraus Getränke. In den Ortschaften muss ich mitunter kleinere Einkäufe nicht bezahlen, mehrmals auch nicht meine Rechnung in den Kafes. Sie sind herzenswarm, und ihre Gastfreundschaft gehört zur kasachischen Kultur.

Der Tadjike Nazar hat seinen Laster angehalten, um ein Foto mit mir zu machen.

Auf der anderen Seite unterschätzen sie aber die Geschwindigkeit, mit der sich ein Radfahrer bewegt, vollkommen. Drei junge Burschen aus Karaganda, die ihr Auto 300 Kilometer vor Balkhash stoppten und mir Obst in die Hand drückten, meinten, wir könnten uns ja in Balkhash wiedersehen. "Klar", sagte ich, "in zwei Tagen bin ich auch dort." Sie wunderten sich: "Ach so. Da sind wir schon wieder zurück in Karaganda." - Vielleicht ist diese Fehleinschätzung auch der Grund dafür, dass erst zweimal Autofahrer anhielten, um mir eine Mitfahrgelegenheit anzubieten. Angebote übrigens, die schon sehr verlockend sind, wenn sich der halbfrontale Wind wieder einmal zu Sturmstärke gesteigert hat. Besonders gefährlich sind die heftigen Böen, die mich manchmal bis auf die Gegenfahrbahn drücken.

Der zweistöckige Komplex steht am Ende von Kanshengel und ist keine Fabrik, sondern eine Bauruine. Ein völlig unpassender Klotz, der einmal als Hotel geplant war. Direkt vor dem zerfallenden Gebäude hat, ein wenig unromantisch, Uydal seine Jurte aufgebaut. Er betreibt das letzte Kafe vor dem Ortsausgang.

Ich stelle mein Zelt neben der großen Ruine auf und geselle mich dann zu Uydal. Außen an der Jurte hängt ein Stromzähler. Das ist gut, denn das bedeutet, dass es kaltes Bier gibt. Dazu grillt er mir zwei saftige Schaschlikspieße, die er mit Fladenbrot serviert.

Die Luft ist klar, die Sonne versinkt langsam und in kräftigen Farben. Die Wolken türmen sich auch heute wieder hoch hinauf in den kasachischen Himmel, sie sind lila, gelb und orange. Wir sitzen vor der Jurte und schauen auf die M36, in den Fernseher von Kanshengel. Alle Minute bewegt sich da auch in den Abendstunden etwas. Uydal erklärt mir jedes Modell, das über den Bildschirm huscht. "Das ist ein Toyota FJ Cruiser." - "Da, ein Mercedes GLK". Und dann kommt noch ein simpler VW Golf vorbei. Uydal ist, wie so viele Kasachen, begeistert von "Mashinas". Er fragt, wie viel in Deutschland ein Maybach kostet. Ich habe nur eine ungefähre Ahnung, werfe 200.000 Euro in den Raum. Später lese ich nach, dass es eher zwei- bis dreimal so viel ist. Auf jeden Fall muss man dafür eine Menge Schaschlikspieße verkaufen.

Uydal möchte auch wissen, ob Russland denn nicht gefährlich gewesen sei.

Uydal auf dem Fahrrad seiner Tochter.

Russland gefährlich? Warum? Nein, war es nicht. Oder ... Moment ... jedenfalls nicht in dem Sinne, wie du es wahrscheinlich meinst. Keine spürbare Kriminalität, nicht die Gefahr, beraubt zu werden. Gefährlich allerdings war der Straßenverkehr, und der war teilweise extrem gefährlich. Außerdem sollte man zusehen, dass man am Wochenende den Betrunkenen aus dem Wege geht. Aber das ist in Kasachstan ja nicht anders.

Und Skinheads? Keine Gefahr durch Skinheads?

Nein, mir sind keine begegnet, auch damit wurde ich nicht konfrontiert. Tatsächlich aber ist übertriebener Nationalismus offenbar ein zunehmendes Problem in Russland. Und die Aggression zielt vor allem auf die Bewohner des Kaukasus und die der zentralasiatischen Nachbarn. Also eben auch auf Uydal.

Abend in Kanshengel

Die Sonne ist inzwischen hinter dem Horizont verschwunden. Uydal hat neue Kundschaft, ich ziehe mich in mein Zelt zurück. Da es hier keine Mücken gibt, kann ich die Eingänge offenlassen und ins Weltall schauen. Der Himmel wird dunkler, der Sternenteppich immer größer. Einige Sternschnuppen ziehen ihre kurzen Bahnen durch die Nacht.

Während Kanshengel von artesischen Brunnen lebt, bezieht Kurty sein Wasser aus dem gleichnamigen Fluss, der sich wie ein Fremdling durch die dürre Steppe zieht. Der Kurty fließt in den Ili-Fluss und speist damit den Balkhash-See, an dessen Ufer ich zwei Tage lang entlanggefahren bin. Er ist inzwischen der größte See Zentralasiens, nachdem der Aralsee auf ein Fünftel seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft ist. Der Balkhash-See hat etwa die Fläche Sloweniens, ist aber an der tiefsten Stelle gerade einmal 26 Meter tief. Auch er ist von der Austrocknung bedroht, weil an den Zuflüssen zuviel Wasser entnommen wird.

Auch das Dorf Kurty ist auf meiner 1:10-Mio-Landkarte verzeichnet.

Südlich von Kurty verändert sich das Landschaftsbild rasch. Erst sind es Büsche, dann Bäume, die plötzlich wieder allgegenwärtig sind. Zugleich zeichnet sich am Horizont eine langgezogene Bergkette ab - die nördlichen Ausläufer des Tian-Schan-Gebirges. Auf den bis zu 5000 Meter hohen Gipfeln liegt Schnee. Nach über vier Wochen in der weiten Steppe wirken die Berge wie eine Wand.

In Almaty, am Fuße der Bergkette, quartiere ich mich in einem alten Sowjethotel ein. Nicht nur der Putz bröckelt hier, vieles ist marode, eigentlich alles, aber das Wasser läuft und Strom fließt. Und günstiger kann man in Almaty kaum unterkommen. Außerdem ist das Personal durchaus freundlich.

Besonders flink ist ein einschlägiger Dienstleistungssektor: Nach einer Stunde ruft eine singende weibliche Stimme auf dem Zimmertelefon an: "Sex Lady ...?" - In Kostanay, kurz nach der Einreise aus Russland, war es ein "Sex Girl", das seine Dienste anbot, nur eine halbe Stunde, nachdem ich eingezogen war. Irgendwie scheinen die Damen bei den an sich seriösen Hotels ihre Informationen über neue Gäste zu bekommen.

Astana - Khan Shatyr

Almaty war bis 1997 die Hauptstadt Kasachstans, verlor diesen Status aber an das im Norden gelegene Astana. Staatsoberhaupt Nazarbaev, inzwischen seit über 20 Jahren im Amt, gab als Gründe für die Verlegung des Regierungssitzes die dezentrale und zudem erdbebengefährdete Lage Almatys an. Außerdem sei Almaty zu eng geworden. Es wird aber auch vermutet, dass Nazarbaev separatistischen Bestrebungen der russischen Bevölkerung vorbeugen wollte, die den Norden dominiert.

Seitdem wächst Astana unaufhörlich, die Stadt wird gern mit Dubai verglichen. Bedeutende internationale Architekturbüros, zum Beispiel Foster + Partners, haben hier ihre Visitenkarten abgegeben, mit extravaganten und futuristischen Gebäuden wie Khan Shatyr (ein schiefes, 150 Meter hohes halbdurchsichtiges Zelt), der Pyramide und dem Bayterek-Turm (erinnerte mich sehr an einen Fußball-Pokal).

Ihren heutigen Namen trägt die Stadt erst seit 1998. Davor lebten die etwa 300.000 Einwohner in "Akmola", dem "weißen Grab". Vor langer Zeit sollen hier in der Steppe bei einem gewaltigen Schneesturm zwei komplette Karawanen lebendig begraben worden sein. Um diese Erinnerung abzuschütteln, hat man die neue Metropole einfach in "Hauptstadt" umbenannt: Astana.

Astana - der Bayterek-Turm

In den letzten 15 Jahren ist die Einwohnerzahl auf 700.000 gestiegen, aber die Stadt befindet sich noch immer in der Aufbauphase. Bis 2030 soll sie sich vor allem nach Süden ausdehnen und dann mehr als eine Million Bewohner zählen.

Wie das äußerst weitläufige Astana ist auch Almaty entspannt und frei von Hektik, selbst wenn Präsident Nazarbaev vorgibt, der Platz reiche in Almaty nicht mehr aus. Als gewachsene Stadt mit den Hausbergen im Süden bietet sie mehr Lebensqualität als die vergleichsweise sterile Hauptstadt. Man kann sich die langen Gesichter all der vielen Diplomaten gut vorstellen, als sie aus heiterem Himmel erfuhren, dass sie in das staubige Astana umziehen müssen.

Ich werde die gute Infrastruktur nutzen, um in Almaty den bevorstehenden Reiseabschnitt bis nach Indien vorzubereiten, soweit das hier schon möglich ist. Er wird "visumtechnisch" einer der schwierigsten Abschnitte der gesamten Reise.

 
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Maks

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